Vor 200 Jahren wurde speziell das Toggenburg von einer katastrophalen Hungersnot heimgesucht. Ein Vortrag im Rathaus Lichtensteig beleuchtete Ausmass und Hintergründe der damaligen Katastrophe.
Peter Küpfer
Es ist noch nicht so lange her. Und doch: Hunger in seiner lebensbedrohenden Form ist für die hiesige Übersättigungsgesellschaft ein kaum mehr vorstellbares Ereignis geworden, wie Ernst Grob, Präsident der Toggenburger Vereinigung für Heimatkunde, einleitend zu bedenken gab.
Die Zeitzeugnisse, textliche und bildliche, belegen es auf eindrückliche Art: 1817 fiel in Libingen jeder sechste Einwohner dem Hungertod anheim, in Mosnang jeder siebte. Und das waren keine Einzelfälle – Kinder, die ausgestreckt am Boden gemeinsam mit Kühen die letzten Grasreste abweideten; Horden von Verzweifelten, die durch die Gassen irrten, um irgendwo in den Abfällen noch etwas Essbares zu entdecken; verwahrloste Höfe, in denen Hunger und Verzweiflung aus den hohlen Augen ihrer brandmageren, oft auch sterbenden Bewohner blickten: Das war in den krassesten Hungermonaten der Krise Alltag geworden.
Die Hungersnot traf damals weite Teile Europas, in besonders schwerwiegender Weise die Ostschweiz und Süddeutschland, wie Referent Louis Specker, Historiker und ehemaliger Direktor des Historischen Museums St. Gallen, ausführte. Das hatte verschiedene und sich in unglücklicher Weise verstärkende Gründe. Einmal die wirtschaftliche Lage ganz allgemein. Die vorausgegangene lange Phase der Napoleonischen Kriege hatte die gesamte europäische Wirtschaft, auch die Landwirtschaft geschwächt. Durch die Aufgabe der Kontinentalsperre nach dem Wiener Kongress von 1815 drangen aus dem Ausland, vor allem aus England, billige maschinell gefertigte Textilien und Garne nach Europa. In der Ostschweiz war das eine tödliche Bedrohung der einheimischen Weber und Spinner. Und dann kam das Jahr 1817, ein Jahr ohne Sommer. Heute ist sich die Forschung einig, dass der Hauptgrund dafür im Ausbruch eines Vulkans in Indonesien lag, dessen Aschepartikel in überaus dichter Form bis nach Europa gelangten und dort den Himmel während Monaten verdüsterten. Kälte und Dauerregen führten zur dramatischen Missernte. Es gab bald einmal kein Mehl mehr, kaum Kartoffeln, wenig Gemüse. Die Preise für Brot stiegen ins Unermessliche, während auf der anderen Seite die Löhne für die Spinner und Weber, die noch Arbeit hatten, ins Bodenlose fielen.
Zwar zeigten sich allerorten Menschen und dörfliche Behörden, die der Not zu wehren suchten. Aber allgemein war die Eidgenossenschaft von 1817 schlecht für eine solche Ernährungskatastrophe gerüstet. Es gab kein Geld, es gab kaum Kompetenzen. Alles lag bei den einzelnen Kantonen und Gemeinden, die stark auf private und kirchliche Initiativen angewiesen waren. Immerhin gab es fast überall Armensuppen, deren höchst einfache Rezeptur beim Publikum Murmeln provozierte: Ausser gestrecktes Mehl und Erbsen enthielt sie vor allem Wasser. In einzelnen Gemeinden wurde die Bettelei, die endemisch wurde, manchmal auch aggressive Formen annahm, verboten, ohne viel Erfolg. In anderen schritten die Behörden an festgesetzten Tagen zum Ausstreuen von Münzen unter die wartenden Hungernden, was zu wüsten Szenen führte. Es fehlten Reserven, es fehlten Strategien, es fehlten effiziente Transportwege.
Von der Mitte des darauffolgenden, klimatisch wieder normalen Frühsommers an besserte sich die Lage allmählich. Aus der Katastrophe wurden einschneidende Lehren gezogen. Die Krise begünstigte frühe Sozialgesetze und führte dazu, dass Ackerbau, Strassenbau, später die Eisenbahn auch unter dem Gesichtspunkt von Katastrophen gesehen und gefördert wurden.
Dem spannenden, faktenreichen Vortrag folgte eine lebhafte Diskussion. Die Frage von Christelle Wick, Kustodin des Toggenburger Museums und Gestalterin der dort aufgebauten Sonderausstellung zum Thema, musste offen bleiben: Wie es sich die damaligen Zeitgenossen, welche die Hungersnot als Strafe Gottes ansahen, wohl erklärten, dass diese vor allem die Armen traf, wohingegen die Reichen leidlich über die Runden kamen?