Ein Rubelgeschenk und Seelenfängerei

Christelle Wick
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Juliane von Krüdener, sie lebte von 1764 bis 1824, war keine Revolutionärin, sondern eine naiv Betende, um 1820. (Bild: PD)

Juliane von Krüdener, sie lebte von 1764 bis 1824, war keine Revolutionärin, sondern eine naiv Betende, um 1820. (Bild: PD)

Lichtensteig Während Zar Alexander 1817 der strukturschwachen Ostschweiz 100000 Rubel als Katastrophen- und Entwicklungshilfe gegen den Hunger schenkt, predigt eine baltische Baronin die Ankunft des Reichs Gottes.

Nichts im Porträt der betenden Juliane von Krüdener deutet darauf hin, dass sie die Hungersnot von 1816/1817 nutzt, um auf Seelenfang zu gehen. Die selbsternannte Prophetin predigt den baldigen Weltuntergang und die Ankunft des Jüngsten Gerichts. Sie hat die Gabe, die hungrigen Massen zu mobilisieren und die Behörden aufzuwiegeln. Die Mächtigen in St. Gallen fürchten sie derart, dass sie ihr 1817 das Betreten des Kantonsgebiets verweigern.

Steiler Aufstieg und Fall einer Prophetin

Die baltische Baronin Juliane von Krüdener hat grossen Einfluss am Zarenhof, begeistert aber auch die Ärmsten. Als Wanderpredigerin verbreitet sie 1817 zwischen Basel und Arbon ihre Heilslehre. Das Volk strömt herbei, um sie zu hören. Die Kirchenmänner aber distanzieren sich. So schreibt der St. Galler Pfarrer Peter Scheitlin, sie sei eine einfältige und abergläubische Person mit mangelhaften Bibelkenntnissen, die als Wunderheilerin wirke und ihre Anhänger mit ärmlichen Suppen und Almosen abfertige. So schnell, wie sie Ruhm erlangt, ist sie auch wieder vergessen: Denn es ist die Hungerkrise, die religiöse Propheten und Verzückte schafft.

Russische Rubel als Not- und Entwicklungshilfe

Ihr Sohn Paul von Krüdener ist zeitgleich russischer Gesandter des Zaren in der Schweiz. Im April 1817 überbringt er dem späteren Erbauer des Linthkanals, Hans Conrad Escher, ein Schreiben: Der Zar schenke der Ostschweiz 100000 Rubel als Nothilfe, wobei die Hälfte für die Urbarmachung der versumpften Linthebene zu verwenden sei. Im Mai einigen sich die Empfängerkantone Glarus, Appenzell, Thurgau und St. Gallen auf die Verteilung des sogenannten «Rubelgeschenks»: Letzterer erhält 15000 Rubel Nothilfe und zusätzlich 20000 Rubel zur Gründung einer St. Gallischen Linthkolonie. Das Geld zur Urbarmachung wird aber zur Seite gelegt. Erst 1833 beschliesst der Grosse Rat, den Rubelfonds gemäss Beschluss von 1817 zu zwei Dritteln dem Ober- und Untertoggenburg sowie den Gemeinden Amden und Weesen auszuzahlen. Ein Drittel geht in den kantonalen Armenfonds. Heute würde eine solche Zweckentfremdung in der Entwicklungszusammenarbeit scharf kritisiert.

Christelle Wick

redaktion@toggenburgmedien.ch

Am 24. Juni (Langer Tisch) finden um 14 Uhr und um 16 Uhr im Toggenburger Museum Lichtensteig zwei Kurzführungen durch die Sonderausstellung «Z’Esse gits nur gsottes Gräs» statt. Die Sonderausstellung im Toggenburger Museum kann bis 29. Oktober jeweils am Samstag und Sonntag von 13 bis 17 Uhr besichtigt werden. Siehe auch: www.toggenburgermuseum.ch. Private Führungen sind jederzeit auf Anfrage möglich.