Wäre die Diskussion ein Fussballspiel gewesen, hätte sie unentschieden geendet. Die erste Halbzeit gehörte Sonja Lüthi, in der zweiten dominierte Boris Tschirky. Die Kräfteverhältnisse änderten je nach Thema.
Vermutlich war es bloss eine unglückliche Formulierung, oder ganz einfach ein Freud’scher Versprecher. Doch als Boris Tschirky den kürzlich verstorbenen Stadtrat Nino Cozzio, dessen Sitz im zweiten Wahlgang vom 26. November neu besetzt wird, als «meinen Vorgänger» bezeichnete, sagte das viel über das Selbstverständnis, mit welchem der CVP-Politiker gegen Sonja Lüthi (Grünliberale) und Roland Uhler (Schweizer Demokraten) im Wahlkampf auftritt. Tschirky, der Favorit, dem Lüthi im ersten Wahlgang jedoch überraschend nahe gekommen war, zeigte sich auch am Tagblatt-Podium vom Dienstagabend gewohnt angriffig, schlagfertig und breitbrüstig.
In den ersten rund 30 Minuten erarbeitete sich jedoch Sonja Lüthi Vorteile. Sie legte die Zurückhaltung von den Auftritten im Vorfeld des ersten Wahlgangs ab und lieferte immer wieder überzeugende, aber auch überraschende Antworten. Bei der Frage, ob es richtig sei, in Zeiten knapper Finanzen in «Baudenkmäler» wie das Espenmoos zu investieren, blieb sie eine klare Antwort allerdings schuldig. Sie punktete auch damit, dass sie Tschirky immer wieder elegant attackierte. Ihre neu geweckte Angriffslust mag auch damit zusammenhängen, dass sie sich reelle Chancen ausrechnen darf, Tschirky auch im zweiten Wahlgang zu bedrängen oder gar zu überholen.
Doch je länger das Podium dauerte, desto mehr trumpfte Tschirky auf. Der Gemeindepräsident von Gaiserwald zeigte sich so, wie man es von ihm erwartet hatte: Er riss das Heft unabhängig vom Diskussionsthema immer wieder an sich und holte in seinen Antworten mitunter weit aus. Doch auch wenn er viel sagte, blieb er in einigen Äusserungen wenig konkret. Der Rheintaler, der die Bezeichnung «Rampensau» für seine Person gelten liess, zeigte sich auch betont volksnah. Etwa, als er sagte, der Stadtrat müsse aktiver auf die Bevölkerung zugehen und offen kommunizieren, um dem Widerstand gegen Projekte möglichst früh den Wind aus den Segeln zu nehmen – ein Punkt, den auch Lüthi vertrat, bei dem sie jedoch einwarf, reden sei das eine, die Dinge dann auch umzusetzen, etwas anderes.
Tschirkys Selbstbewusstsein spiegelte sich auch in der Aussage wider, die Stadt St. Gallen müsse «ihr Understatement ablegen», wenn es darum gehe, sich auf nationaler Ebene für ihre Anliegen einzusetzen. Auch Lüthi forderte, die Stadt müsse «mutiger werden und zum einstigen Pioniergeist zurückfinden».
Auch wenn je nach Diskussionsthema mal Boris Tschirky, mal Sonja Lüthi Oberwasser hatte, hielten sich am Ende die beiden Kandidaten in etwa die Waage. Passend zum erwarteten knappen Ausgang des zweiten Wahlgangs, könnte man sagen.
David Gadze