Die Ortsbürgergemeinde ist eine der Erbinnen der Stadtrepublik St. Gallen. Politische Aufgaben hat sie keine mehr. Ihre Engagements bereichern aber das Stadtleben. Ein neues Buch erklärt, wie es dazu kam.
Reto Voneschen
Wenn Institutionen selber Bücher über sich und ihre Bedeutung herausgeben, kann das rasch zu einer peinlichen Sache werden. Wenn die kritische Distanz zur eigenen Geschichte fehlt, kommt kein interessantes Buch heraus, sondern eine überflüssige Lobeshymne. Das ist im Fall der neuen, dieser Tage erscheinenden Publikation der Ortsbürgergemeinde St. Gallen erfreulicherweise nicht der Fall. Es tut der Neuerscheinung gut, dass sieben von neun Kapiteln durch Historikerinnen und Historiker verfasst wurden.
Aber auch die vom amtierenden Bürgerratspräsidenten geschriebenen Teile zu den Jahren 1980 bis 2016 lassen sich sehen. Es handelt sich um eine detaillierte Beschreibung, die auch kontroverse Diskussionen und unerfreuliche Ereignisse nicht ausklammert. Darunter ist etwa der Verkauf der Bank Vadian in Zusammenhang mit dem Auslandgeschäft, das in einer Busse von rund vier Millionen Franken in den USA endete.
Mit dem neuen Buch über sich selber liefert die Ortsbürgergemeinde einen dicken «Schinken» zu Stadtgeschichte ab. Der Aufbau ist chronologisch, die Beschreibungen glänzen dort durch Detailreichtum, wo es um den Kern der Sache geht. Eine Stärke des Buchs ist die Bebilderung: Der Band glänzt mit einer Vielzahl grossformatiger Illustrationen. Dank der durchgehend guten Druckqualität kommen sie voll zum Tragen. Wertvoll ist, dass die Bilder von aussagekräftigen Legenden begleitet werden. Nur schon das erste Durchblättern des Bandes wird so zum kurzweiligen Vergnügen.
Gegliedert ist der Text in neun Kapitel. Dorothée Guggenheimer und Stefan Sonderegger umreissen kurz die Geschichte von St. Gallen von der Galluslegende bis zum Höhepunkt der alten Stadtrepublik. Marcel Mayer widmet ein Kapitel «dem langen Abschied» (1798 bis 1831) von dieser Republik hin zur Zweiteilung in Politische Gemeinde und Ortsbürgergemeinde. Der Entflechtung zwischen den beiden Körperschaften 1831/32 – also der Geburtsstunde der Ortsgemeinden – ist ein zweites, der Entwicklung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen bis 1880 ein drittes Kapitel von Mayer gewidmet.
Dann übernimmt Max Lemmenmeier: Er skizziert zuerst einmal «die Zeit des grossen Bauens» von 1880 bis 1919. Für St. Gallen war das die Zeit des Stickereibooms und des rasanten Wachstums mit dem folgenden Einschnitt des Ersten Weltkriegs. In einem weiteren Kapitel wird der endgültige Zusammenbruch der Textilwirtschaft und die folgende wirtschaftlich und sozial harte Zeit bis 1950 unter die Lupe genommen. Zwischen 1950 und 1980 folgte dann der erneute wirtschaftliche Aufschwung, der neue Probleme mit sich brachte.
Die Geschichte der Ortsbürgergemeinde St. Gallen von 1980 bis 2016 beschreibt der amtierende Bürgerratspräsident Arno Noger: Die Bewältigung dieser Periode war für alle Ortsgemeinden eine Herausforderung. Im Gegensatz zur Ortsbürgergemeinde St. Gallen haben es nicht alle von ihnen geschafft, sich finanziell und von den Aufgaben her neu zu positionieren. Kantonsweit wurden daher etliche von ihnen in den letzten 15 bis 20 Jahren aufgelöst.
Ein ganz wichtiger Einschnitt kam ums Jahr 2000: Damals verloren die Ortsgemeinden mit der neuen Kantonsverfassung ihre letzten politischen Aufgaben, jene im Einbürgerungsbereich. Seit 2003 sind im St. Gallischen die Politischen Gemeinden für Einbürgerungen zuständig. Dazu kamen seit 1980 Diskussionen darüber, ob es die Ortsgemeinden überhaupt noch brauche. Kritische Betrachtungen dazu bekam die Ortsbürgergemeinde St. Gallen beispielsweise zum 150-Jahr-Jubiläum schon 1981 vom damaligen Stadtammann Heinz Christen zu hören.
Die Ortsbürgergemeinde St. Gallen hat die Debatten unbeschadet, aber nicht unverändert überstanden. Wohl nicht zuletzt deswegen, weil sie sich schon früh auf den Weg machte, sich zu einem Unternehmen zu wandeln. Ein guter Boden dafür war der Wald- und Liegenschaftenbestand, also die Möglichkeit, neue Mittel durch Baulandverkäufe zu generieren, was dem Schuldenabbau förderlich war. Ein anderer Faktor waren die seit 1831/32 im Bereich «Gesundheit und Alter» aufgebauten und ständig weiterentwickelten Institutionen. Dazu zählen heute die Geriatrische Klinik, das Alters- und Pflegeheim Bürgerspital und das Altersheim Singenberg. Letzteres wird gerade jetzt durch eine Seniorenresidenz ergänzt.
Die Ortsbürgergemeinde St. Gallen hatte im Gegensatz zu anderen Ortsgemeinden nie Mühe, die von ihr zu erfüllenden Aufgaben fürs Allgemeinwohl zu definieren. So unterstützt sie bis heute wichtige kulturelle Institutionen der Stadt – darunter die Museen – und engagiert sich bei der Pflege des grünen Rings. Und im letzten Jahrzehnt ist die Ortsbürgergemeinde gewachsen: 2009 fusionierte sie mit der Ortsgemeinde Rotmonten, 2014 mit jener von Straubenzell. Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger stieg um 4674 auf 10037. Ende 2015 hatte die Ortsbürgergemeinde einen Stellenplan mit knapp 404 Vollzeitstellen und beschäftigte 542 Personen. 2016 erwirtschaftete sie bei einer Bilanzsumme von 125 Millionen einen Gewinn von 535000 Franken.
Die Ortsbürgergemeinde SG
Bürgerinnen und Bürger erhalten das neue Buch gratis. Im Buchhandel kostet es 48 Franken. Vertrieben wird es durch die Verlagsgenossenschaft St. Gallen (VGS).