Stadt St.Gallen
«Die Polizei hat die Verhältnismässigkeit verloren»: Juso-Stadtparlamentarierin prangert einseitige Polizeirepression an

Die Interpellation, die Klimaaktivistin Miriam Rizvi am Dienstag im Stadtparlament einreichte, hat es in sich. Der Vorwurf: Die Stadtpolizei behandle Kundgebungen von Coronaskeptikern anders als linke Aktionen.

Sandro Büchler
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Bei einem Protestzug von Massnahmenkritikerinnen und –kritikern durch St.Gallen im August 2021 ist die Polizei vor Ort präsent.

Bei einem Protestzug von Massnahmenkritikerinnen und –kritikern durch St.Gallen im August 2021 ist die Polizei vor Ort präsent.

Bild: Raphael Rohner
(25. August 2021)

«Die Stadtpolizei hat extrem viel Macht.» Das sagt Miriam Rizvi. Bekannt wurde sie als Kopf des St.Galler Klimastreiks, seit August sitzt Rizvi für die Juso im Stadtparlament. Dort hat sie am Dienstag eine Interpellation eingereicht – notabene den ersten Vorstoss nur in ihrem eigenen Namen.

Der Vorwurf, den die Jungsozialistin darin formuliert, ist nicht neu. Den Vorwurf gibt es zudem nicht nur in St.Gallen an die Adresse der örtlichen Polizei, man kennt ihn auch aus anderen Schweizer Städten. Demnach soll die Polizei bei linken Kundgebungen und Aktionen im öffentlichen Raum erheblich genauer hinschauen als bei jenen von rechten Gruppierungen.

Miriam Rizvi, Stadtparlamentarierin Juso.

Miriam Rizvi, Stadtparlamentarierin Juso.

Bild: PD

Als Beleg für ihre Behauptung listet Rizvi in der Interpellation die Reaktionen der Stadtpolizei auf Veranstaltungen von Gegnerinnen und Gegnern der Coronapolitik des Bundes vom Herbst 2020 bis 2021 sowie auf jene von linken Gruppierungen von April 2020 bis September 2021 auf. Die Gegenüberstellung zeigt laut Rizvi, dass selbst die kleinste Form linksgerichteter Proteste stigmatisiert und unterdrückt werde, während rechtsgerichtete politische Äusserungen hingegen toleriert würden.

Mehrfach hätten Polizei und Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit übertrieben und unverhältnismässig auf linke Aktionen reagiert, kritisiert Rizvi. Sie listet Anzeigen, Wegweisungen, Festnahmen und Bussen bei linken Kunst- und Plakataktionen auf, während es bei Demos von Massnahmenkritikern oft nur zu Kontrollen, Verwarnungen und nur in einem Fall zu vier Bussen gekommen sei.

Wer darf ein Megafon benutzen und wer nicht?

Gemäss der Juso-Stadtparlamentarierin fehle zudem oft eine Begründung für das polizeiliche Handeln. Sie gibt ein Beispiel:

«Anfang September wurde bei einer bewilligten und friedlichen linken Demo mit rund 200 Personen der Einsatz eines Megafons verboten.»

Eine Woche zuvor seien Massnahmengegnerinnen und -gegner samt Trychler durch die Stadt gezogen – der Demonstrationsanführer mit Megafon voraus. Eine Bewilligung sei dem Organisator spontan vor Ort erteilt worden, sagt Rizvi.

Am 25. August 2021 zogen rund 450 Massnahmenkritikerinnen und -kritiker durch St.Gallens Innenstadt. Der Organisator der Demo richtete sich dabei mehrfach mit einem Megafon an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Am 25. August 2021 zogen rund 450 Massnahmenkritikerinnen und -kritiker durch St.Gallens Innenstadt. Der Organisator der Demo richtete sich dabei mehrfach mit einem Megafon an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Bild: Sandro Büchler
(25. August 2021)

In ihrem Vorstoss will die Parlamentarierin vom Stadtrat wissen, wieso die Polizei wöchentliche Anti-Coronapolitik-Fackelmärsche mit 20 Personen zugelassen hatte, obwohl zum Schutz vor der Pandemie Gruppen auf fünf oder zehn Personen beschränkt waren. Zudem will Rizvi auch aufgrund von Vorkommnissen ausserhalb der Stadt St.Gallen wissen, wie die Stadt sicherstellen will, dass die Bewegungsfreiheit von Medienschaffenden während künftiger Aktionen von Massnahmenkritikern gewährleistet ist.

Recherchen und Augenzeugenberichte ergeben ein Gesamtbild

Rizvi hat nach eigener Aussage ausführlich recherchiert für die Interpellation, hat mit Augenzeuginnen und Kollegen, die von der Polizei belangt wurden, gesprochen. Mehrfach habe sie Vorkommnisse auch selbst beobachtet.

Das Thema Polizeigewalt sei ihr wichtig, nicht erst seit dem Aufkommen der Black-Lives-Matter-Bewegung. Welche Rolle hat die Polizei in der Gesellschaft, fragt die Jungsozialistin rhetorisch und gibt die Antwort gleich selbst:

«Die Polizei muss für Sicherheit sorgen, aber auch den nötigen Freiraum lassen.»

Doch die Polizei habe mittlerweile zu viele Aufgaben zu erfüllen, auch stelle die Bevölkerung zu hohe Erwartungen an die Sicherheitskräfte. Sie beobachte seit mehreren Jahren nun, dass die Stadtpolizei linke Aktivisten gezielt und ungleich härter anpacke als andere, sagt Rizvi. «Die Polizei hat die Verhältnismässigkeit verloren.»

Bei einem als «Stiller Protest» bezeichneten Protestmarsch gegen die Coronamassnahmen nahmen im November 2020 auf dem Gallusplatz rund 100 Personen in Schutzmasken und Schutzanzügen teil. Nach einer Auseinandersetzung mit Gegendemonstranten wurden zwei von ihnen angezeigt.

Bei einem als «Stiller Protest» bezeichneten Protestmarsch gegen die Coronamassnahmen nahmen im November 2020 auf dem Gallusplatz rund 100 Personen in Schutzmasken und Schutzanzügen teil. Nach einer Auseinandersetzung mit Gegendemonstranten wurden zwei von ihnen angezeigt.

Bild: Natascha Arsic
(14. November 2020)

Das Ungleichgewicht der Repression zwischen links und rechts bei den im Vorstoss aufgelisteten Fällen will die Klimaaktivistin vom Stadtrat erklärt bekommen. Zudem will sie wissen, wie er sicherstellt, dass städtische Behörden keine politische Agenda verfolgten und insbesondere nicht unverhältnismässig gegen von Linken organisierte Aktionen vorgehen.

Stadtpolizei äussert sich vorerst nicht zu den Vorwürfen

Mit der Interpellation will sie auch in Erfahrung bringen, welche Massnahmen die Stadt ergreifen will, um den Zugang zum Recht auf politische Meinungsäusserung zu gewährleisten. Denn die Jungsozialistin sagt, das Vorgehen der Polizei wirke für viele einschüchternd.

«Junge Aktivistinnen werden ihre Meinung dadurch womöglich gar nicht oder nur zögerlich äussern, wenn sie damit rechnen müssen, am Abend im Knast zu landen.»

Dabei sei die freie Meinungsäusserung ein Grundrecht. Auch fehle die Resonanz in den Medien, wenn linke Aktionen schon von Beginn weg unterdrückt würden.

Dionys Widmer, Mediensprecher Stadtpolizei St.Gallen.

Dionys Widmer, Mediensprecher Stadtpolizei St.Gallen.

Bild: PD

Im Gespräch wird klar: Rizvi geht es um eine grundlegende Frage. Wer hat das Privileg und das Recht, sich zu äussern? «Denn offenbar müssen junge Links-Aktivistinnen und -Aktivsten Repression fürchten, während Coronaskeptiker ohne Widerspruch und polizeiliche Interventionen toleriert und gewährt werden.»

Die Stadtpolizei will sich zu den Vorwürfen an ihre Adresse nicht äussern. Mediensprecher Dionys Widmer sagt:

«Das Stadtparlament hat bei Vorstössen das Erstinformationsrecht.»

Daran müsse sich auch das städtische Polizeikorps halten.