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Vom eigenen Boot träumt Emil Balmer seit er als Bub zum Arbeiten gezwungen wurde. Nun schwimmt seine selbst gebaute «Maryann» auf dem Bodensee. Ohne die Hilfe der Kesb wäre das nicht möglich gewesen.
Es gibt Geschichten über die Kesb, die hört man immer wieder. Sie handeln von fremdplatzierten Kindern, von Konflikten, von einer rücksichtslosen Behörde, die machen kann, was sie will. Und es gibt Geschichten über die Kesb, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Sie bleiben in den Aktenschränken. Weil sie kein Aufsehen erregen, weil sie sich nicht für politische Propaganda eignen. Es lohnt sich, auch sie zu erzählen. Weil sie eine andere Seite der Behördenarbeit zeigen. Wie die Geschichte von Emil Balmer.
Es ist bitterkalt und windig, als Emil Balmer an diesem Novembermorgen seinen roten Traktor auf den Rorschacher Hafenplatz steuert. Auf dem Anhänger liegt sie, seine «Maryann», mit Gurten befestigt und einer Blache zugedeckt. Das Tuckern durchbricht die Stille, die Seepromenade ist menschenleer, die Saison längst vorbei. Emil Balmer, 75 Jahre alt, grauer Bart, steigt vom Traktor. An der Hafenmauer wartet Walter Bentivoglio, sein Beistand. «Bist du nervös?» Emil Balmer lächelt verlegen, dreht sich um und macht sich ans Lösen der Gurte. Jetzt gilt es ernst. Fünf Monate lang hat er jeden Tag an seinem Boot gewerkelt. Heute wird es eingewassert. Lange war er der einzige, der daran glaubte.
Ernst Emil Balmer kommt 1944 in Köniz bei Bern zur Welt. Er ist zwei Jahre alt, als sich seine Mutter das Leben nimmt. Der Vater kümmert sich nicht. Der Bub kommt in ein Heim in Ostermundigen, erfährt dort Schläge und Erniedrigungen. Die Grossmutter reagiert, Emil Balmer wird zuerst in einer Pflegefamilie platziert, dann in der damaligen Anstalt Landdorf. Dort wird er als Arbeitskraft für eine Gärtnerei missbraucht. Mit 6 Jahren zieht Emil Balmer Rechen hinter sich her, er setzt Bohnen, pflanzt Salat und schleppt Eisenstangen. Die Arbeit beginnt um 6 Uhr, vor 20 Uhr kommt er selten zur Ruhe. Der Heimleiter meint, «es ist gesund, zu arbeiten».
Der Bub will etwas lernen. Am liebsten Dachdecker oder Matrose. Sein Vormund gibt ihm zu verstehen, dass «Landdörfler» zum Arbeiten und nicht zum Lernen vorgesehen seien. Mit 17 Jahren wechselt er ins örtliche Bestattungswesen. In jeder freien Minute spielt er auf seiner Handorgel. Das gibt ihm Kraft.
Mit 18 Jahren hat Emil Balmer erstmals das Gefühl, nicht eingesperrt zu sein. Er findet eine Stelle auf dem Bau, verdient 3.50 Franken pro Stunde. Heimlich spielt er auf seiner Handorgel. Als er seinen Vormund fragt, ob er Unterricht nehmen dürfte, winkt dieser ab. «Kommt nicht in Frage. Du kannst das nicht.» Auch Fahrstunden werden diskussionslos abgelehnt. Emil Balmer sagt heute:
«Ich kam mir vor wie in einer Presse. Wollte ich aufstehen, drückten sie mich wieder runter.»
Die Jahre ziehen ins Land. Emil Balmer bekommt wieder einen neuen Vormund, er findet Jobs im Gastgewerbe und geht schliesslich zur See. Er arbeitet auf dem Hochseefrachter Maloja, einem Schweizer Handelsschiff. Der Umgang auf hoher See ist rau, es fliesst viel Alkohol, die Arbeit zehrt an den Kräften. Aber Emil Balmer fühlt sich frei. Nach zwei Jahren kehrt er zurück in die Schweiz. Die Vormundschaft wird aufgehoben. Jetzt ist er «frei». Bis er 1997 in eine Lebenskrise stürzt.
Zurück im Rorschacher Hafen. Balmers Boot ist startklar. «Maryann», mit ihren Bullaugen auf der Seite, den rot-weiss karierten Vorhängen und goldenen Laternen, kann auf den Bodensee. Der alte Schiffskran hebt das Boot an, langsam bewegt es sich zum Hafenbeckenrand und dann Richtung Wasser. Emil Balmer klettert die Ausstiegsleiter hinunter.
Inzwischen haben sich ein paar Schaulustige eingefunden. Zwei Freunde und die Wirtin seiner Stammbeiz sind gekommen: «Er spricht seit Wochen nur von seinem Schiff, das musste ich einfach sehen.»
In den 1990er-Jahren zieht Emil Balmer in die Ostschweiz, nach Buechen, Thal. Er ist jetzt über 50 und findet einfach keine Arbeit mehr. Er fühlt sich nicht gebraucht, einsam und sucht Trost im Alkohol. Im Jahr 2000 wird wieder eine Vormundschaft errichtet. Es kommt zu Differenzen zwischen Balmer und seiner von der Gemeinde eingesetzten privaten Beiständin. Sie sind so schlimm, dass er kaum noch Lebensfreude verspürt.
Nach Errichtung der neuen Beistandschaft tritt Walter Bentivoglio in Emil Balmers Leben. Er übernimmt seinen Fall in einer Zeit, in der der Kindes- und Erwachsenenschutz ein Politikum ist. Balmer wird mittlerweile von einer Rechtsberatung vertreten, die sich auf Kesb-Fälle spezialisiert hat. Am runden Tisch arbeiten alle Beteiligten die Zwischenfälle auf. Man würde es verstehen, wäre Emil Balmer verbittert. Er, der niemals die Chance hatte, Vertrauen in öffentliche Institutionen aufzubauen. Doch er will vorwärts schauen. Denn er versteht sich gut mit Walter Bentivoglio, sehr gut.
«Ich fühle mich wohl», sagt er am Sitzungstisch, die kräftigen Hände zusammengefaltet, ein weicher Ausdruck im Gesicht. Balmer hat sich vom Alkohol abgewendet, er hat ein Ziel vor Augen. Ein Beschluss gibt ihm Hoffnung. 2016 nehmen National- und Ständerat den Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative an. Gemäss Gesetz haben Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen Anspruch auf 25'000 Franken. Ein «Zeichen der Anerkennung des erlittenen Unrechts», so formuliert es der Bundesrat. Eine finanzielle Wiedergutmachung, für etwas, das man nicht wiedergutmachen kann.
Emil Balmers Antrag wird bewilligt. Er weiss sofort, was er mit dem Geld machen will: ein Boot bauen. Der Beistand ist zunächst skeptisch. Das ändert sich, als Emil Balmer ihm ein detailreiches, selbst gebautes Modell präsentiert. «Ich war beeindruckt», sagt Bentivoglio.
Walter Bentivoglio ist seit Errichtung des Kindes- und Erwachsensenschutzes als Berufsbeistand tätig. Zuvor hat er im Sozialversicherungswesen und als Amtsvormund gearbeitet. Der Sizilianer, der einst einen Boxclub führte, ist ein zugänglicher Mensch. Er gibt einem schnell das Gefühl, man würde sich schon ewig kennen. In einem Interview hat sich Bentivoglio einmal als Dirigent bezeichnet: «Ich muss den Fall führen, er darf nicht mich führen.» Im Fall Balmer dirigiert Bentivoglio ein ganzes Orchester.
Bei einem Grillfest seines Boxclubs in Rorschach fällt ihm auf dem Nachbargrundstück ein Schuppen mit Unterstand auf – ein idealer Werkplatz. Er gehört dem Kaninchenzüchterverein. Bentivoglio ruft den Präsidenten an und handelt einen Freundschaftspreis für die Miete aus. Er schaut sich mit Emil Balmer nach Material um, organisiert einen Schiffsmotor, bestellt 400 Kilo Holz. Im August steht Balmer zum ersten Mal an der Werkbank.
Fortan vergeht kein Tag, an dem der 75-Jährige nicht mit seinem roten Traktor von Buechen nach Rorschach fährt und an seinem Boot baut. Bei jedem Wetter. Der Beistand verwaltet das Geld, immer in Absprache mit seinem Klienten, und bittet einen Experten vom Schifffahrtsamt um einen Augenschein. «Maryann» nimmt Gestalt an.
Als das Boot fertig ist, willigt Thals Gemeindepräsident Robert Raths ein, es im Werkhof der Gemeinde zwischenzulagern. Bentivoglio und sein Schwiegervater helfen beim Transport. Der Rorschacher Bootsfahrschul-Inhaber Roman Frommenwiler organisiert einen Hafenplatz. Der Hafenmeister gibt grünes Licht, «Maryann» kommt neben die Luxusyachten in die erste Reihe. Urs Grob vom Bootsverleih steuert bei der Einwässerung den Kran. Es scheint, als hätte Bentivoglio das halbe Städtchen zusammengetrommelt. Es scheint, als hätten sie sich alle zusammengeschlossen, um die Verantwortung jener Gesellschaft zu übernehmen, die dies in Emil Balmers Kindheit versäumt hat. Solidarität mit jemandem, der in seinem Leben mehr Ablehnung als Zuneigung erfahren hat. Ein spätes Glück.
Nur noch wenige Zentimeter. Walter Bentivoglio umklammert seine Aktentasche, der Boxer mit den breiten Schultern ist jetzt ein wenig angespannt. «Super, Emil!», rufen die Freunde. Dann berührt «Maryann» das Wasser. Emil Balmer startet den Motor, setzt sich hinters Steuerrad und schaut aus dem Fenster. Walter Bentivoglio atmet auf – «es schwimmt!»
Ein Lebenstraum geht an diesem Morgen im Rorschacher Hafen in Erfüllung. Die Seefahrt ist Emil Balmers Leidenschaft. Wenn er von seinen Modellschiffen erzählt, blüht er auf. Er will nach Lübeck fahren und die Passat, eine Viermast-Stahlbark, besichtigen. Er will fischen. Er plant einen Ausflug zum Walensee. Er fühlt sich frei.