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Menschen mit Behinderung, die zu Hause leben, müssen viel tun, um Helfer zu organisieren. Ein Rechtsanwalt will Abhilfe schaffen. Ein Prototyp der App ist bereits in Entwicklung.
Man stelle sich vor, man muss ein Unternehmen führen, um zu Hause zu leben. Arbeitsverträge aufsetzen, sich um die Versicherungen kümmern und Löhne abrechnen. Für einige Menschen mit Behinderung ist dies Realität (siehe Kasten). Rechtsanwalt Severin Bischof sagt:
«Wer von der IV den Assistenzbeitrag bezieht und nicht in einer Institution leben möchte, wird quasi zum KMU-Chef.»
Personen mit einer Behinderung, die auf regelmässige Hilfe angewiesen sind, haben Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Gemäss Definition der Invalidenversicherung IV ist hilflos, wer bei alltäglichen Vorgängen wie Ankleiden, Aufstehen, Essen oder Körperpflege die Hilfe anderer Menschen benötigt.
Wer als Bezüger der Hilflosenentschädigung statt in einer Institution zu Hause leben möchte, kann den Assistenzbeitrag der IV beantragen. Die Höhe der Beiträge errechnet sich aufgrund des regelmässigen zeitlichen Hilfebedarfs und wird von der IV monatlich gegen Vorlage einer Abrechnung an die versicherte Person ausbezahlt. Diese finanziert damit die Hilfeleistungen, die von der angestellten Assistenzperson erbracht werden. Dabei besteht ein Arbeitsvertrag. Demnach ist die hilfsbedürftige Person Arbeitgeber und die Assistenzperson Arbeitnehmer. Die Assistenzperson darf nicht mit der versicherten Person verheiratet sein, mit ihr in eingetragener Partnerschaft leben oder in direkter Linie mit ihr verwandt sein. (dh)
Der 33-jährige Stadtsanktgaller hat spinale Muskelatrophie – eine Form von Muskelschwund – und ist seit früher Kindheit auf einen Rollstuhl angewiesen. Als Betroffener hat er selbst 14 Assistenten und weiss um den monatlichen Papierkrieg. Seit dem vergangenen Jahr arbeitet er deshalb mit anderen Betroffenen an einer App, die Abhilfe schaffen soll. Die Plattform heisst CléA; ein Zusammenzug des Französischen «Schlüssel zur Assistenz».
Eine grosse Überraschung gab es Mitte Januar. Das Team nahm am Wettbewerb Solve for Tomorrow von Samsung teil. Im Finale präsentierten acht Teams ihre sozialen Innovationen, die gesellschaftliche Barrieren abbauen sollen. Die Idee von CléA überzeugte die Jury und erhielt den ersten Platz. «Das ist ein enormer Zuspruch für uns und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind», sagt Bischof.
Die App gibt es noch nicht, die Entwicklung hat das Zürcher Unternehmen Super Computing Systems übernommen. «Wir haben uns für einen professionellen Anbieter entschieden, da die App barrierefrei zugänglich sein soll und wir selbst zu wenig Ressourcen haben.»
Derzeit sieht das Konzept vier Module vor, die gestaffelt implementiert werden sollen. Das erste und grundlegende ist die Stellenbörse.
«Denn nur schon die Suche von Assistenten ist sehr schwierig.»
Das weiss Bischof aus eigener Erfahrung. Auf der Plattform können Menschen mit Behinderung ihre Anforderungen publizieren und Studenten, Pflegekräfte oder Wiedereinsteiger bewerben sich. «Einige brauchen vielleicht jemanden, der einkaufen geht, andere suchen Personen für Pflegeleistungen. Wir wollen alles abdecken.»
Mit der bisherigen Unterstützung auch von der Vereinigung Cerebral Schweiz, der Stiftung Denk an mich sowie vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen sei das erste Modul teilweise finanziert. «Wir können im Herbst einen Prototypen lancieren. Für Anpassungen und weitere Module sind wir auf der Suche nach Sponsoren», sagt Bischof.
Erst nach der offiziellen Lancierung, die für 2021 geplant ist, sollen weitere Module in Angriff genommen werden. Geplant sind eine automatisierte Erstellung von Arbeitsplänen, eine Zeiterfassung und Budgetplanung sowie die Abrechnung der Lohnkosten der Assistenten mit der IV. Das Team um CléA ist bestrebt, aus Feedback zu lernen, weswegen sich die etappenweise Implementierung für das Projekt eigne.
Die grösste Herausforderung sei, dass alle Beteiligten so etwas zum ersten Mal machen und nebenbei noch arbeiten. Als Rechtsanwalt komme die Arbeit in Wellen genauso wie beim Projekt. Bischof gibt zu: «Wenn beide Bereiche intensiv werden, dann stosse ich schon ein wenig an meine Grenzen», gibt Bischof zu.
Die Beteiligten haben sich im März 2019 zu einem Förderverein formiert, dessen Präsidium Severin Bischof mit Nadja Schmid innehält. Der ehrenamtliche Vorstand setzt sich aus Betroffenen, Assistenten sowie aus Partnern zusammen. «So haben wir alle Sichtweisen vertreten», erklärt Bischof. Der Verein hat eine Geschäftsstelle eingerichtet, deren Leiterin Fabienne Locher ist. Verschiedene Ehrenamtliche unterstützen sie dabei. Unter anderen ist das Islam Alijaj, der als Betroffener und SP-Politiker für die Vernetzung zuständig ist. Julian Heeb fungiert als technischer Leiter. Frédéric Baur, einer von Bischofs Assistenten und Student der Rechtswissenschaften, ist ebenfalls ehrenamtlich tätig.
Vor allem die Rollenverteilung und Organisation gebe immer wieder Klärungsbedarf. «Jeder bringt andere Qualitäten mit und alle wollen am gleichen Strick ziehen. Man muss ordnen, sodass alle in die gleiche Richtung ziehen», sagt Bischof.
Website: www.clea.app