Kunst und Gespräche
Wildfremde Menschen tauschen sich aus beim Kaffee: Lebensgeschichten mit Tränen und Herzklopfen

Besucherinnen und Besucher lassen sich überraschen, inspirieren und berühren. Im «Erzähl-Café» im Forum Würth Rorschach treffen sich jeden Monat fremde Menschen, um sich über Geschichten zu einem vorgegebenen Thema zu unterhalten.

Carmen Beck Jetzt kommentieren
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Moderatorin Ana Pajic stellt sich und das «Erzähl-Café» vor.

Moderatorin Ana Pajic stellt sich und das «Erzähl-Café» vor.

Bild: Katrin Mischitz

Es ist Mittwochnachmittag, kurz vor 14 Uhr. Im Forum Würth Rorschach ist es still. Vereinzelt sieht man hier und da eine Besucherin oder einen Besucher andächtig ein Gemälde der neuen Ausstellung «Wasser, Wolken, Wind» betrachten. Die einzigen Geräusche kommen aus dem oberen Stock. Aus manchen Ecken hört man leise Stimmen und das Geräusch von klappernden Tellern und Tassen klingt aus der Küche des Kunst-Cafés.

Dort werden sich in wenigen Minuten zehn wildfremde Menschen treffen und sich in den kommenden zwei Stunden zu einem vorgegebenen Thema Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Der Anlass nennt sich «Erzähl-Café» und findet heute im Haus Würth bereits zum sechsten Mal statt. Besucherinnen und Besucher werden sich an diesem Nachmittag auf die Spuren der eigenen Herzen begeben. Gespräche mit Tiefgang sind das Motto der Veranstaltung und im «Erzähl-Café» geht es um das pure Leben.

Die grosse Glastür öffnet sich automatisch, als um Punkt 14 Uhr die ersten Gäste eintrudeln, um sich an einem gedeckten Tisch direkt an der riesigen Fensterfront schon einmal ihren Platz auszusuchen. Der leicht bewölkte, jedoch mit Sonnenstrahlen durchzogene Himmel lässt einen klaren Blick auf den See zu und bietet die perfekte Kulisse für das heutige Thema. An diesem Mittwoch geht es um Heimweh- und Fernweh, magische Orte, um das Reisen innerhalb und ausserhalb der Schweiz. Es geht um die eigenen Wurzeln und darum, was Heimat für den Einzelnen bedeutet und wo diese überhaupt ist. Ist sie da, wo man jetzt lebt? Oder da, wo man geboren wurde oder aufgewachsen ist? Oder ist sie da, wo das Herz ist?

Respektvoller Umgang miteinander

Ana Pajic, die Moderatorin des Anlasses, betritt lächelnd den Raum und stellt sich vor. Sie ist Kunstvermittlerin im Forum Würth Rorschach und zuständig für Führungen und die Veranstaltungen. Ihre Stimme ist warm und sie strahlt eine sympathische Ruhe aus. Ruhe und Empathie sind nur zwei der Eigenschaften, die man besitzen sollte, um die Moderation eines Erzähl-Cafés zu übernehmen. Die 50- Jährige habe für diese Aufgabe eine Ausbildung im Bereich Sozialpädagogik in Olten absolviert. Und es gibt Regeln. Zuhören ist Ehrensache, erzählen ist freiwillig und es wird nicht gewertet. Es gehe um den respektvollen Umgang im Gespräch.

Ana Pajic begleitet die Besucherinnen und Besucher in die Räumlichkeiten des Museums, wo sie anhand des Kunstwerks «Ansicht des Romsdalsfjords» von Carl August Oesterley in das Thema einführt. Das Gemälde zeigt das Bild eines Sees mit Bergen im Hintergrund. Der Himmel ist durchzogen von Licht und Schatten. Der Anblick hat etwas Bedrohliches, strahlt jedoch durch die hellen Abschnitte auch Zuversicht aus. Aus diesem Grund hat die Moderatorin das Kunstwerk ausgesucht. «Wegen der Gegensätze, Heimweh und Fernweh, Helligkeit und Dunkelheit, die Berge, der See», sagt sie, während die Gäste das Gemälde betrachten. Wenige Minuten später geht es zurück in das Kunst-Café und die Gesprächsrunde ist eröffnet.

Einblick in die Ausstellung «Wasser, Wolken, Wind».

Einblick in die Ausstellung «Wasser, Wolken, Wind».

Bild: Katrin Mischitz

In der heutigen Runde ist die Tatsache, dass sich eigentlich alle fremd sind, so gut wie nicht zu spüren. Das «Du» ist sofort selbstverständlich, auch wenn die Generationenunterschiede enorm sind. Die jüngste Besucherin ist 21 Jahre und die älteste 91 Jahre. Und doch herrscht eine ungewöhnliche Vertrautheit und die Gespräche finden auf Augenhöhe statt. Es fallen Sätze wie: «Ich kenne das Gefühl von Heimat nicht», «daheim ist man da, wo das Herz ist», oder «ich kenne kein Heimweh, nur Fernweh». Eine Frau erzählt, dass sie im mittleren Alter in das Land zurückkehrte, in dem sie geboren wurde, weil sie nie das Gefühl von Heimat gehabt hätte. Zwei Monate lang auf der Suche nach den eigenen Wurzeln, habe sie dann festgestellt, dass sie in die Schweiz gehört. Die Erzählungen der einzelnen Gäste, geprägt von persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen oder Empfindungen, sind teilweise sehr emotional und es kullert während des Sprechens auch schon mal die eine oder andere Träne die Wange hinunter. Es sind bewegende, lustige und tiefsinnige Geschichten, die an diesem Nachmittag erzählt und gehört werden.

Inspiration, Überraschung und Emotionen

Obwohl Ana Pajic auf die Frage, wie sie auf die Gesprächsthemen kommt, antwortet: «Ich wähle keine schwierigen Themen, keine Politik und auch keine Religion, ich wähle immer positive Themen», können diese eben auch Emotionen auslösen und sich manchmal für den einen oder anderen für einen kurzen Moment schwer anfühlen. Auch mal abschweifen kommt vor beim Erzählen. Dann wird von einer Reise erzählt und plötzlich wird über Liebe gesprochen, über fehlende Liebe, über Träume, über das Alter. Oberflächliches Plaudern geht anders – das Erzähl-Café hält, was es verspricht. Es bietet die Plattform für tiefgründige Gespräche, die überraschen, inspirieren, auch berühren, und bringt Menschen aus unterschiedlichen Lebenslagen zusammen, um ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen mitzuteilen.

Die zwei Stunden Erzähl-Café am heutigen Tag, vergangen wie im Flug, sind nun vorüber. Menschen, die sich vorher nicht kannten und sich vielleicht auch nie wieder begegnen werden, verabschieden sich voneinander, nachdem sie sich einen Nachmittag lang über die eine oder andere persönliche Erfahrung aus ihrem Leben erzählt haben. Sie wirken zufrieden. Soziale Kontakte sorgen nachweislich für das seelische Wohlbefinden. Und so wird Ana Pajic im Mai und im Juni mit neuen, geplanten Themen wie «Inspiration» oder «Lebenslust» interessierte Menschen wieder für ein paar Stunden in eine Welt aus Kunst und Gespräche entführen.

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