ST.GALLEN. Eine der bedeutendsten St.Galler Handschriften, das Nibelungenlied, wird in das Unesco-Weltdokumenten-Erbe aufgenommen.
Am Anfang eine sanfte, bezaubernde Prinzessin, am Ende eine rachsüchtige Königin und dazwischen eine Saga, die alles enthält, was einem das Herz wärmt und das Blut in den Adern stocken lässt: süsse Liebe, schrecklicher Verrat, feuerspeiender Drachen, catchende Königin, tapfere Helden, sagenhafte Schätze – dies alles wird im Lied der Nibelungen über 38 Kapitel entfaltet, einem Epos, das ums Jahr 1260 irgendwo in Süddeutschland entstand.
Es basiert auf einem alten nordischen Sagenschatz, der über Jahrhunderte hinweg in mündlicher Erzählung weitergegeben wurde. Für den germanischen Kulturkreis hat die Nibelungendichtung die gleiche Bedeutung wie die Troja-Sage für den Mittelmeerraum.
Überliefert wird die Nibelungensaga von drei massgeblichen Handschriften. Eine von ihnen, die «Nibelungenhandschrift B», befindet sich in der Stiftsbibliothek St.Gallen, die zwei weiteren, A und C, gehören der Bayerischen Staats- und der Badischen Landesbibliothek. Lange galt die St. Galler Handschrift als die massgebende; inzwischen werden von der Forschung alle drei für gleichwertig betrachtet.
Die Aufnahme der drei Nibelungenhandschriften ins Unesco-Weltdokumenten-Erbe wurde gestern von der deutschen Unesco-Kommission in Bonn bekanntgegeben.
Damit gehören sie zum «Memory of the World», zum «Gedächtnis der Welt», einem Programm, mit dem die Unesco aussergewöhnliche Zeugnisse aus Archiven, Bibliotheken und Museen einen besondern Schutz verschaffen will. Bislang gehören 158 Dokumente dazu. Das Programm sieht vor, dass die Dokumente digital aufbereitet und im Internet weltweit zugänglich gemacht werden.
In der Stiftsbibliothek wusste man zwar, dass sich die deutsche Unesco-Kommission mit den Nibelungen befasst; vom Entscheid der Unesco aber hat die Bibliothek gestern nicht direkt, sondern aus Internet-Mitteilungen deutscher Medien erfahren.
Glücklicherweise ist die Handschrift zurzeit ohnehin ausgestellt. Wie bedeutsam die St. Galler Nibelungenhandschrift ist, weiss man vor allem in Deutschland schon lange. Anfang des 19.
Jahrhunderts pilgerten bereits bedeutende deutsche Sprachwissenschafter in die Stiftsbibliothek, um die Handschrift zu besichtigen, «das göttliche Nibelungenlied», wie es Johann Andreas Schmeller im Tagebucheintrag vom 29. November von 1814 notierte. Das Datum ist vielsagend. Ein Jahr zuvor war in der Völkerschlacht von Leipzig Napoleon geschlagen worden, nicht zuletzt dank der studentischen Jugend, die sich vom aufkeimenden deutschen Nationalgefühl ergreifen liess.
Dieses aber wollte weiter gepflegt werden. Vor allem die Sprachwissenschafter forschten nach den Quellen des «echten, unverfälschten Deutschtums», nach Texten und Mythen, in denen man eine Art nationaler Ureinheit zu entdecken hoffte. Dies führte die Forscher auch nach St. Gallen, wo sie in der Stiftsbibliothek all das fanden, was sie gesucht hatten: älteste Dokumente zur althochdeutschen Sprache, Klostergeschichten, vor allem aber die Nibelungenhandschrift.
Diese Verehrung ist bis heute erhalten geblieben, war lediglich in der Nachkriegszeit etwas gedämpft, weil Hitlers Verehrung des Heldenepos einen Schatten auf die Nibelungen, die Handschrift so gut wie Wagners «Ring der Nibelungen» warf.
Diese Zeiten sind vorbei. Der «Ring» wird gerade jetzt wieder in Bayreuth zelebriert. Und auch die Wallfahrt zur St. Galler Handschrift wird weiter gepflegt.
In welcher Atmosphäre dies zuweilen geschieht, hat Thomas Hürlimann in seinem Bibliotheksepos «Fräulein Stark» beschrieben. Klassisches Beispiel ist der «Herr Doktor», der auf der Hochzeitsreise seine «Elfriede» nach St. Gallen schleppt: «Na, dann wollen wir mal, ruft er tatendurstig… und schon rutscht er im flotten Langläuferstil auf den Fusssohlen davon… zum langersehnten Höhepunkt seiner Liebesfahrt, zur Nibelungenhandschrift B.»