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Der Sozialdemokrat Gallus Hufenus amtete 2018 als hundertster Präsident des St.Galler Stadtparlaments. Der Barista zieht Bilanz und erklärt, warum er als Sitzungsleiter sowohl Radiomoderator als auch Papi von 62 Kindern spielen musste.
Der höchste Stadtsanktgaller wohnt weit oben. Direkt am Burggraben lebt Gallus Hufenus gemeinsam mit seinem Lebenspartner in einer geräumigen Jugendstil-Wohnung. Einen Lift gibt es nicht. «Ich mag das so», sagt der Barista und bietet ein Glas Wasser an. Kaffee gebe es bei ihm zu Hause nicht, sagt Hufenus. Dafür brauche er den öffentlichen Raum, das Lebendige, den «städtischen Durchzug».
Am 15. Januar treten Sie als Präsident des Stadtparlaments ab. Was werden Sie am wenigsten vermissen?
Gallus Hufenus: Dass der Alltag eines Parlamentspräsidenten ein bisschen fremdbestimmt ist.
Haben Ihnen all die Apéros, Empfänge und Abendverpflichtungen denn zu schaffen gemacht?
Nein, ich habe das gerne gemacht. Es ist nur seltsam, wenn man fast entmündigt wird.
Sie haben also einen bereits gefüllten Terminkalender erhalten?
Genau, der Takt kommt von aussen. Und das ist ein bisschen schräg. Aber das Teilnehmen an den Veranstaltungen hat mir fast immer Spass gemacht.
Liessen sich all die repräsentativen Aufgaben denn gut mit Ihrer Arbeit als Barista und Inhaber des Kaffeehauses vereinbaren? Ein 9-to-5-Job ist das ja nicht.
Ja und nein. Es ist insofern einfacher für mich, da ich keinen Chef habe, den ich nach Erlaubnis fragen müsste. Am Kinderfest zum Beispiel: Da habe ich einfach das Café geschlossen, weil ich es wollte. Aber ich musste mich natürlich organisieren und mehr Springer einsetzen. Ein- , zweimal habe ich das Kaffeehaus aber etwa zehn Minuten früher geschlossen. Der Nachteil ist: Von den Personalkosten her war dieses Jahr wahrscheinlich eine Minusrechnung. Sprich: Die Spesenentschädigung, die ich von der Stadt erhalten habe, hat wohl nicht gereicht, um meine Ausfälle im Geschäft zu kompensieren. Aber das ist mir wurst, es ist ein Erlebnis!
Sie wurden gewissermassen ja anders entschädigt. An all den Anlässen gewinnen Sie neue Einblicke in die Stadtbevölkerung.
Auf jeden Fall. Das war wohl etwas vom Schönsten in meinem Präsidialjahr. Wie bereits gesagt: Für mich ist eine Stadt ein Ort mit Durchzug. Ein Ballungsort, an dem ganz viele Geschichten zusammenkommen. Und das potenziert sich in einem solchen Jahr – es ist wie ein einjähriges Fest.
Das klingt anstrengend.
Es ist tatsächlich manchmal ein bisschen heftig, zu verdauen. Die Gegensätze sind nämlich brutal. Da werde ich zum Champagnertrinken an den CSIO eingeladen und kurz danach mache ich am gleichen Ort bei Erste-Hilfe-Übungen des Samaritervereins mit.
Das ganze Spektrum des städtischen Lebens eben.
Es ist, als würde man aus dem Leben einen Espresso machen. Alles komprimiert und hoch konzentriert.
Auch im Parlament waren Sie als Sitzungsleiter gefordert. War es auf diesem höchsten Stuhl, wie Sie es sich vorgestellt hatten?
Es war doch noch einmal anders! Die Akzeptanz war aber von Anfang an da. Niemand dachte: «Was ist denn das für einer?» Und das hat mir auch in anderen Lebensbereichen geholfen, mehr Souveränität und Selbstvertrauen aufzubauen.
Da schwingt auch viel Psychologie mit.
Das hat mich überrascht, ja. Ich habe immer geglaubt, als Mann in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft werde ich nie Kinder haben. Jetzt habe ich ein Jahr lang eine Art Vaterrolle für 62 Personen gehabt (lacht). Die Parlamentarier kommen mit verschiedensten Anliegen auf einen zu, auch ausserhalb der Debatte. Da gilt es präsent zu sein, zuzuhören und zu schlichten – selbst dort, wo dies gar nicht unbedingt die Kernaufgabe eines Präsidenten ist.
Diskussionen gab’s zum Beispiel am 3. Juli. Rechnungssitzung, 100-Jahr-Jubiläum des Stadtparlaments und der Fussball-WM-Achtelfinal zwischen der Schweiz und Schweden. Eine schwierige Terminkollision.
Exponentinnen und Exponenten von SP und SVP wollten die Sitzung verschoben haben, andere fanden das ein No-Go. Da musste man dann entscheiden und die Entscheidung vermitteln. Und für meine Entscheidung, die Sitzung nicht zu verschieben, kam das Parlament dann sogar in einem Beitrag von «10vor10».
Vermitteln, moderieren, überleiten: Da hilft es auch, wenn man wie Sie als ehemaliger Radiomoderator im Umgang mit dem Mikrofon geübt ist.
Ich hatte fast ein Déjà-vu! Sobald ich auf dem Stuhl dort oben sass, fühlte ich mich, als würde ich wieder diesen roten Faden spinnen. Von einem Votum zum anderen überleiten, zum Beispiel.
Jeder Parlamentspräsident kann auch einen Teil seiner Persönlichkeit ins Amt bringen. Das haben Sie gerne und bewusst gemacht – etwa in Ihrer Antrittsrede auf Katalanisch oder mit der Regenbogen-Flagge auf dem Pult.
Klar, das kann man schon. Ich hatte aber stets den Anspruch, dass es formell konform ist – und inzwischen beherrsche ich das auch gut. Egal ob jemand jetzt etwas trockener oder lebendiger ist: Wichtig ist, dass man auch in diesem Amt authentisch ist. Das wäre dann auch mein einziger Tipp an meine Nachfolgerin. Sie soll sich selbst sein, dann wird nämlich auch sehr viel von den anderen akzeptiert – egal welcher politischen Couleur. Diese Gesellschaft ist nämlich 100 Mal offener, als die Leute denken. Das habe ich auch an all den Anlässen gesehen.
Wie meinen Sie das?
In einer Demokratie ist es fundamental, dass man zuhört und Bedürfnisse abklärt – die DNA der Stadt spürt, sozusagen. Und das tut man an solchen Veranstaltungen. Klar gab es Anlässe, an denen ich einfach ein Blumenstrauss war (lacht). Aber an anderen nahm ich ja wirklich teil, hielt Reden. Und wenn ich dort aus tiefster Überzeugung gesprochen habe, habe ich jeweils die schönsten Rückmeldungen erhalten.
Warum?
Weil es nicht die üblichen Phrasen waren. Das Amt gibt einem ein wenig Freiheit, der Stadt seinen Stempel aufzudrücken; erstens, weil man weiss, dass es im kommenden Jahr wieder ein anderer Typ Mensch sein wird. Und zweitens, wenn man es eben ehrlich meint und von innen heraus macht.
Das berührt Sie?
Sehr. Es ist unglaublich schön, so etwas zu erleben! Zum Beispiel, wenn ich nach einer Rede bei Berufsmaturandinnen und Maturanden emotionale Feedbacks erhalte. Oder, wenn ich mit einer schwulen Captain-Binde beim FC St. Gallen auftauche. Das bin ich, ich fühle mich dann auch nicht gehemmt. Es käme aber irgendwo auch ein Punkt, wo es zu weit ginge.
Zum Beispiel?
Es gibt Leute, die haben das Gefühl, jetzt müsse man mit einer gesellschaftspolitischen Absicht öffentlich rumknutschen. Wenn das für mich nicht stimmt, dann muss ich das nicht machen. Weil dann wirkt’s eben komisch.
Kurz zurück zur Stadt und ihrer DNA: Was wünschen Sie sich für das St. Gallen der Zukunft?
Wohl das Gleiche, wie ich meiner Nachfolgerin empfohlen habe. Ich habe oft das Gefühl, die Stadt ordnet sich irgendwelchen Rankings unter und misst sich an anderen Städten. Quasi: Jetzt haben die einen Weihnachtsmarkt und eine Eisbahn, jetzt brauchen wir das auch. Das hat nichts mit ehrlichem Mut zu tun, der von einem gesunden Selbstverständnis kommt. Das war vor gut 120 Jahren während der Textilblüte noch anders.
Ihr Selbstverständnis hat Sie für 2019 auf die Nationalratsliste der SP gebracht.
Jetzt brauche ich wieder eine Hürde (lacht). Ich kann mir dieses Amt vorstellen, aber mein Glück hängt nicht davon ab. Ich will mir zwar keine Illusionen machen oder zu hohe Erwartungen schüren. Aber ich kann dazu beitragen, dass die Partei ein gutes Resultat macht.
Gallus Hufenus ist 1979 in St. Gallen geboren und im Riethüsli-Quartier aufgewachsen. Später wurde ihm die Stadt zeitweise zu kleinräumig. Hufenus lebte in Sevilla, Barcelona und auch in Buenos Aires, wo er die Kaffeehaus-Kultur für sich entdeckte. Hufenus arbeitete anschliessend als Moderator für Radio Aktuell, als Dolmetscher vor Gericht (Spanisch-Deutsch), als Stadtführer und Texter. Seit 2010 betreibt Hufenus zudem im Linsebühl sein eigenes Kaffeehaus. Im selben Jahr zog er für die SP ins St. Galler Stadtparlament ein – und präsidierte dieses 2018. (ghi)
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