St.Gallen sucht Fusionspartner - aber heute zieren sich alle potenziellen Bräute

St.Gallen ist das Produkt der Fusion der drei damals grössten Gemeinden im Kanton, von Alt-St.Gallen, Tablat und Straubenzell. Will die Stadt heute weiter wachsen, dürfte dies nur mit weiteren Zusammenschlüssen möglich sein. Dieser Prozess harzt aber. Was ist heute anders als vor 100 Jahren?

Reto Voneschen
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Ein möglicher Grund für eine Fusion ist, dass zwei Gemeinden baulich zusammengewachsen sind. Im Bruggwald-Quartier zwischen St. Gallen und Wittenbach wäre das heute der Fall. (Bild: Ralph Ribi (23. November 2017))

Ein möglicher Grund für eine Fusion ist, dass zwei Gemeinden baulich zusammengewachsen sind. Im Bruggwald-Quartier zwischen St. Gallen und Wittenbach wäre das heute der Fall. (Bild: Ralph Ribi (23. November 2017))

Die Weiterentwicklung der Stadt St.Gallen ist ins Stocken geraten. Die Situation ist nicht dramatisch, aber doch spürbar: Einzelne Kategorien von Bauland – etwa für Einfamilienhäuser – gibt es auf Stadtgebiet nicht mehr. Die Bevölkerungszahl stagniert um 80'000 Personen. Und es gibt Indizien, dass Stadt und Region St.Gallen gegenüber anderen, sich rasanter entwickelnden Agg­lomerationen ins Hintertreffen geraten könnte, gerade auch bezüglich der Beachtung in der nationalen Politik.

Mit innerer Verdichtung lassen sich derzeit die meisten baulichen Defizite noch überbrücken. Die städtische Infrastruktur weist zudem einen guten Ausbaustand auf. Und auch das Kulturangebot ist im Vergleich zu anderen Schweizer Städten ähnlicher Grösse überaus reichhaltig.

Der Broderbrunnen auf einer Ansichtskarte, die 1902 nach Paris geschickt wurde. Auffällig sind die vielen Bäume und Büsche, die den Oberen Graben säumen. (Bilder: Sammlung Reto Voneschen)
23 Bilder
Der Eingang zur Multergasse um 1900.
Die mittlere Neugasse nach 1900.
Die Schmiedgasse nach 1900.
Die Gallusstrasse bei der Verzweigung mit der Bankgasse (links) vor 1906. Im repräsentativen Gebäude in der Bildmitte war später die Volksküche und ist heute die Tourist-Information untergebracht. Rechts daneben steht das weiss-blaue Haus, einst Sitz der katholischen Leo-Buchhandlung, heute Standort der Chocolaterie.
Der Klosterplatz um 1900.
Eine 1900 verschickte Ansichtskarte vom Marktplatz. Das Tram war schon damals ein Gemeinschaftswerk der politischen Gemeinden St.Gallen, Tablat und Straubenzell - unter Federführung der St.Galler.
Die St.-Leonhard-Strasse mit der Rückseite der neuen Hauptpost auf einer Ansichtskarte, die 1913 verschickt wurde. Links steht heute der Neumarkt, im Hintergrund ist der Turm der St.Leonhardskirche zu erkennen.
Ein Blick von der St.Leonhardskirche Richtung Stadtzentrum vor 1905. Noch fehlen hinter dem Güterschuppen in der linken Bildmitte der neue Hauptbahnhof und die neue Hauptpost. Anstelle der Letzteren stehen Wohnhäuser mit grossen Gärten.
Das Bahnhofsareal bei der Leonhardsbrücke vor 1912. Links ist die Lokremise zu erkennen, dahinter die inzwischen abgebrochene Stadtmolkerei und das Klubhaus, das derzeit renoviert wird. Beachtenswert sind auch die Kohlehaufen am Rand des Areals.
Hinter dem Hauptbahnhof: Die Rosenbergstrasse auf Höhe des Zugangs zur heutigen Rathaus-Unterführung vor 1906. Links ist die Treppe zu erkennen, über die man zur Passerelle über die Gleise kam: Sie querte man hier damals noch ober- und nicht unterirdisch.
Die Kaserne auf der Kreuzbleiche vor 1901.
Das Spisertor auf einer Ansichtskarte vor 1914. Das Café, das am rechten Bildrand zu sehen ist, stand auf dem heutigen, breiten Eingang in die Moosbruggstrasse. Das Gebäude wurde im Zuge einer Strassenkorrektion abgerissen.
Die Linsebühlkirche um 1900.
Die Voliere im Stadtpark auf einer speziell kunstvoll gestalteten Ansichtskarte, die am 12. März 1900 nach Laufenburg im Kanton Aargau verschickt wurde. Das Porto betrug damals übrigens fünf Rappen.
Springbrunnen im Stadtpark vor 1902.
Blick auf den Stiftsbezirk vom Bernegghang her. Rechts vor dem runden Turm der ehemaligen Stadtbefestigung steht das Haus zur Moosburg.
Die Felsenbrücke über die Mülenenschlucht vor 1910.
Die Gottfried-Keller-Strasse und ihr Viadukt am Rand der Mülenenschlucht vor 1912.
Die Falkenburg um 1910. Im Haus war schon damals eine beliebte Ausflugsbeiz untergebracht.
Die verschiedenen Freibäder auf Drei Weieren auf einer Ansichtskarte um 1900.
Die Badhütte am Mannenweier um 1910. Im Hintergrund knapp zu erkennen ist der Bubenweier. Bis in die 1950er-Jahre hinein stieg man in St.Gallen nach Geschlechtern und Altersgruppen getrennt ins Wasser.
Ein Blick über einen Teil der Gemeinde Tablat um 1899. Im Vordergrund St.Fiden. Im Hintergrund ist am linken Bildrand die Strafanstalt St.Jakob zu erkennen.

Der Broderbrunnen auf einer Ansichtskarte, die 1902 nach Paris geschickt wurde. Auffällig sind die vielen Bäume und Büsche, die den Oberen Graben säumen. (Bilder: Sammlung Reto Voneschen)

Die beiden letzten Punkte haben allerdings einen Preis: Die Ausgaben dafür tragen mit dazu bei, dass der städtische Steuerfuss relativ hoch geblieben ist. Um die Stadtkasse nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, war es in den vergangenen Jahren nicht möglich, ihn im Gleichschritt mit den Nachbargemeinden zu senken.

Gemeindefusionen wären eine elegante Lösung

Die eleganteste Lösung für sich abzeichnende Probleme (darunter das mit dem Bauland und das mit dem Bevölkerungswachstum) wäre, wenn sich St.Gallen mit Nachbargemeinden zusammentun könnte. Für so eine Heirat kommen am ehesten Wittenbach und Gaiserwald in Frage.

Aber: Die Lust der Gemeinden auf ein Fusionsabenteuer ist nicht wirklich vorhanden. Das war 1914 bei Wittenbach und dann von den späten 1950er- bis in die frühen 1970er-Jahre bei Gaiserwald anders. Dass die Stadt auf diese Anfrage für eine Eingemeindung nicht eingegangen ist, erweist sich heute als verpasste Chance.

Ende der 1950er-Jahre bekundete Gaiserwald Interesse daran, sich der Stadt St.Gallen anzuschliessen. Aus den folgenden Kontakten wurde allerdings nichts - aufgrund des Desinteresses der Stadt. Anfang der 1970er-Jahre legte Gaiserwald die Idee ad acta. Das Bild zeigt Abtwil mit Blick von der Autobahn in Richtung Tannenberg. (Bild: Michel Canonica -15. Augst 2013)

Ende der 1950er-Jahre bekundete Gaiserwald Interesse daran, sich der Stadt St.Gallen anzuschliessen. Aus den folgenden Kontakten wurde allerdings nichts - aufgrund des Desinteresses der Stadt. Anfang der 1970er-Jahre legte Gaiserwald die Idee ad acta. Das Bild zeigt Abtwil mit Blick von der Autobahn in Richtung Tannenberg. (Bild: Michel Canonica -15. Augst 2013)

In den vergangenen zwanzig Jahren hatte die St.Galler Stadtregierung bei ihrer Brautwerbung nämlich keinen Erfolg. Das war ab 1898 ganz anders: Damals ging der Anstoss zur Zusammenlegung von den Nachbargemeinden aus. Das war letztlich ein zentraler Grund, dass St.Gallen, Tablat und Straubenzell am 1. Juli 1918 miteinander fusionieren konnten, damit zu Gross-St.Gallen wurden und das Fundament für die heutige Stadt St.Gallen legten.

Aus der Geschichte lernen?

Anfang der Woche hat Stadtarchivar Marcel Mayer an der Gallusfeier die Voraussetzungen, den Prozess und die Durchführung des Gemeindezusammenschlusses von 1918 Revue passieren lassen. Angesichts der heutigen «Heiratsprobleme» kann man sich fragen, was unser Stadtrat von den damaligen Gemeindebehörden lernen kann.

Es gibt im Verhältnis der Gemeinden zwischen 1900 und heute sehr wohl Parallelen. Damals wie heute ging es um Bauland für die Weiterentwicklung, das der Stadt fehlte, in den Vorortsgemeinden aber zur Verfügung stand. Das ging so weit, dass die Stadt grosse Infrastrukturprojekte in die Vororte auslagern musste – etwa den Friedhof Feldli oder die erste Kläranlage (ursprünglich bei St.Fiden geplant, wurde sie aufgrund heftiger Opposition im Gebiet Hofen in Wittenbach realisiert).

Im Gegenzug erhofften sich Tablat und Straubenzell vom Zusammengehen eine Verbesserung ihrer finanziellen Lage, wobei der einzelne Bewohner dieser Gemeinden damit rechnen konnte, von sinkenden Steuern zu profitieren. Die Interessen zwischen den Fusionspartnern waren also ausgeglichen, und zwar so ausgeglichen, dass Argumente gegen die Verschmelzung keine wirkliche Chance hatten. Das Zusammengehen wurde mehrfach in Volksabstimmungen auf den politischen Prüfstand gestellt. Dies immer mit klarem Resultat.

Gemeinden haben heute den tieferen Steuerfuss

Beim Geben und Nehmen liegt heute der grosse Unterschied gegenüber der Epoche vor 100 Jahren. Die Stadt muss aus Gründen ihrer weiteren Entwicklung starkes Interesse an Gemeindezusammenschlüssen haben. Bei den Gemeinden hingegen fehlt ein so starkes Argument für die Fusion; die Finanzen sind jedenfalls keines mehr. Heute steht die Stadt finanziell unter Druck, während bei den potenziellen Bräuten die Steuerfüsse im Sinkflug sind.

Mit dem Fehlen eines starken Motivs für einen Anschluss an die Stadt gewinnen in den Nachbargemeinden andere Argumente an Stärke. Viele «Dörflerinnen und Dörfler» befürchten etwa, dass man von der grösseren Stadt «gefressen» wird, von kleinräumigen, vertrauten Strukturen in ein anonymes Gebilde wechselt.

Fazit: Unter den heutigen Voraussetzungen bei den Nachbarn heiratswillige Partner zu finden, wird für den St.Galler Stadtrat schwierig. Und er wird sich dafür auch etwas Neues einfallen lassen müssen. Ein Patentrezept für die Brautwerbung von heute lässt sich aus den Vorgängen von vor 100 Jahren nämlich nicht ableiten.