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St.Gallen ist das Produkt der Fusion der drei damals grössten Gemeinden im Kanton, von Alt-St.Gallen, Tablat und Straubenzell. Will die Stadt heute weiter wachsen, dürfte dies nur mit weiteren Zusammenschlüssen möglich sein. Dieser Prozess harzt aber. Was ist heute anders als vor 100 Jahren?
Die Weiterentwicklung der Stadt St.Gallen ist ins Stocken geraten. Die Situation ist nicht dramatisch, aber doch spürbar: Einzelne Kategorien von Bauland – etwa für Einfamilienhäuser – gibt es auf Stadtgebiet nicht mehr. Die Bevölkerungszahl stagniert um 80'000 Personen. Und es gibt Indizien, dass Stadt und Region St.Gallen gegenüber anderen, sich rasanter entwickelnden Agglomerationen ins Hintertreffen geraten könnte, gerade auch bezüglich der Beachtung in der nationalen Politik.
Mit innerer Verdichtung lassen sich derzeit die meisten baulichen Defizite noch überbrücken. Die städtische Infrastruktur weist zudem einen guten Ausbaustand auf. Und auch das Kulturangebot ist im Vergleich zu anderen Schweizer Städten ähnlicher Grösse überaus reichhaltig.
Die beiden letzten Punkte haben allerdings einen Preis: Die Ausgaben dafür tragen mit dazu bei, dass der städtische Steuerfuss relativ hoch geblieben ist. Um die Stadtkasse nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, war es in den vergangenen Jahren nicht möglich, ihn im Gleichschritt mit den Nachbargemeinden zu senken.
Die eleganteste Lösung für sich abzeichnende Probleme (darunter das mit dem Bauland und das mit dem Bevölkerungswachstum) wäre, wenn sich St.Gallen mit Nachbargemeinden zusammentun könnte. Für so eine Heirat kommen am ehesten Wittenbach und Gaiserwald in Frage.
Aber: Die Lust der Gemeinden auf ein Fusionsabenteuer ist nicht wirklich vorhanden. Das war 1914 bei Wittenbach und dann von den späten 1950er- bis in die frühen 1970er-Jahre bei Gaiserwald anders. Dass die Stadt auf diese Anfrage für eine Eingemeindung nicht eingegangen ist, erweist sich heute als verpasste Chance.
In den vergangenen zwanzig Jahren hatte die St.Galler Stadtregierung bei ihrer Brautwerbung nämlich keinen Erfolg. Das war ab 1898 ganz anders: Damals ging der Anstoss zur Zusammenlegung von den Nachbargemeinden aus. Das war letztlich ein zentraler Grund, dass St.Gallen, Tablat und Straubenzell am 1. Juli 1918 miteinander fusionieren konnten, damit zu Gross-St.Gallen wurden und das Fundament für die heutige Stadt St.Gallen legten.
Anfang der Woche hat Stadtarchivar Marcel Mayer an der Gallusfeier die Voraussetzungen, den Prozess und die Durchführung des Gemeindezusammenschlusses von 1918 Revue passieren lassen. Angesichts der heutigen «Heiratsprobleme» kann man sich fragen, was unser Stadtrat von den damaligen Gemeindebehörden lernen kann.
Es gibt im Verhältnis der Gemeinden zwischen 1900 und heute sehr wohl Parallelen. Damals wie heute ging es um Bauland für die Weiterentwicklung, das der Stadt fehlte, in den Vorortsgemeinden aber zur Verfügung stand. Das ging so weit, dass die Stadt grosse Infrastrukturprojekte in die Vororte auslagern musste – etwa den Friedhof Feldli oder die erste Kläranlage (ursprünglich bei St.Fiden geplant, wurde sie aufgrund heftiger Opposition im Gebiet Hofen in Wittenbach realisiert).
Im Gegenzug erhofften sich Tablat und Straubenzell vom Zusammengehen eine Verbesserung ihrer finanziellen Lage, wobei der einzelne Bewohner dieser Gemeinden damit rechnen konnte, von sinkenden Steuern zu profitieren. Die Interessen zwischen den Fusionspartnern waren also ausgeglichen, und zwar so ausgeglichen, dass Argumente gegen die Verschmelzung keine wirkliche Chance hatten. Das Zusammengehen wurde mehrfach in Volksabstimmungen auf den politischen Prüfstand gestellt. Dies immer mit klarem Resultat.
Beim Geben und Nehmen liegt heute der grosse Unterschied gegenüber der Epoche vor 100 Jahren. Die Stadt muss aus Gründen ihrer weiteren Entwicklung starkes Interesse an Gemeindezusammenschlüssen haben. Bei den Gemeinden hingegen fehlt ein so starkes Argument für die Fusion; die Finanzen sind jedenfalls keines mehr. Heute steht die Stadt finanziell unter Druck, während bei den potenziellen Bräuten die Steuerfüsse im Sinkflug sind.
Mit dem Fehlen eines starken Motivs für einen Anschluss an die Stadt gewinnen in den Nachbargemeinden andere Argumente an Stärke. Viele «Dörflerinnen und Dörfler» befürchten etwa, dass man von der grösseren Stadt «gefressen» wird, von kleinräumigen, vertrauten Strukturen in ein anonymes Gebilde wechselt.
Fazit: Unter den heutigen Voraussetzungen bei den Nachbarn heiratswillige Partner zu finden, wird für den St.Galler Stadtrat schwierig. Und er wird sich dafür auch etwas Neues einfallen lassen müssen. Ein Patentrezept für die Brautwerbung von heute lässt sich aus den Vorgängen von vor 100 Jahren nämlich nicht ableiten.