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Hirt Michael Fitze zieht im Winter mit seiner Familie, 800 Schafen, drei Hunden und einem Esel durch die Region.
Wer in diesen Tagen rund um Häggenschwil spaziert, dem bietet sich ein biblisches Bild. 800 Schafe grasen auf den weiten Wiesenmatten. Drei Hunde umkreisen die Herde und passen auf, dass kein Lamm ausreisst. Mittendrin ruft ein Esel: «I-ah!»
Hirt Michael Fitze und seine Partnerin Sandra Schuster beobachten das Geschehen vom Wegrand aus. «Ein paar Schafe gehen zu nah an die Obstplantage heran», sagt die 33-Jährige. Worauf Fitze «Brrrrrrr!» ruft. Ein Pfiff, und die Hunde treiben die Schafe zu ihm hin. Wie von Zauberhand strömen sie aus allen Himmelsrichtungen zusammen. Zwischen dem Hirten und seinen Schafen gibt es eine stille Übereinkunft: «Ich gebe euch eine Weide, und ihr folgt mir.»
Im Sommer arbeitet Fitze auf einer Schafalp in Vrin im Val Lumnezia. Im Winter wandert er mit einer Herde im Unterland, wo noch Gras zu finden ist. Im Dezember zog seine Karawane in Tübach los, nach Horn, Arbon, Roggwil, Egnach und Häggenschwil. Danach geht's über die Sitter weiter nach Gossau. Und dann wieder zurück Richtung Bodensee. Die Herde gehört einem Schafgrossbauer, der Fitze und seiner Partnerin einen Lohn bezahlt.
Der 40-Jährige gehört zu den letzten Wanderhirten der Schweiz. Die Schäferei, eines der ältesten Gewerbe der Menschheit, droht hierzulande auszusterben. «Vor 30 Jahren gab es noch etwa 40 Wanderherden in der Schweiz. Jetzt sind es nur noch rund 20 Herden», sagt Andreas Michel, Agronom und Fachlehrer für Milchwirtschaft und Kleinvieh am Plantahof in Landquart. Viele alte Hirten finden keinen Nachfolger. Durch die zunehmende Verbauung des Unterlandes werden die Weideflächen immer rarer. Zudem werden viele Schafalpen aufgegeben, weil es zu aufwendig sei, die Tiere vor dem Wolf zu schützen.
Michael Fitze kundschaftet jeweils die Weideplätze aus, bevor er mit seiner Herde weiterzieht. Jeden Abend zäunt er sie ein. Grossesel Charlie schleppt den eingerollten elektrischen Zaun. Der Hirt sagt:
«Oft laufen die Schafe dem Esel nach.»
Auch das 18 Monate alte Töchterchen Malena ist auf der Winterreise dabei, warm eingepackt in handgestrickten Wollsachen. «Wir nahmen sie schon zwölf Tage nach der Geburt mit auf die Alp, sie war noch kaum je krank», sagt der stolze Vater und nimmt die Kleine auf die Schultern.
Am Waldrand steht ein Traktor mit angehängtem Wohnwagen – das bescheidene Zuhause der kleinen Familie. «Die Schafe sind eher sein Ding», sagt Sandra Schuster, die ihren Partner zum ersten Mal in der Wintersaison begleitet. Da sie nun zu dritt sind und das Kind irgendwann in den Kindergarten muss, überlegen sie sich, sesshaft zu werden. Stundenlang steht das Hirtepaar am Wegrand und beobachtet die Tiere. Es passiert: Fast nichts. Ein Kontrast zur schnelllebigen Zeit. Michael Fitze sagt:
«Wenn die Schafe schön fressen und am Abend satt daliegen, macht mich das zufrieden.»
Es ist warm für die Jahreszeit, das Gras aussergewöhnlich hoch. Die Schafe sind Feinschmecker. Wenn das Gras stark nach Gülle schmeckt, verschmähen sie es und blöken. Ein blauer Himmel spannt sich über die Wiese. Spaziergänger bleiben stehen und betrachten fasziniert die Hirten mit ihren Tieren. Ein Bild von stiller Schönheit.
Aber so romantisch ist das Hirtenleben nicht immer. «Es ist ein karges Leben, nicht wie Campingferien im Tessin», sagt Agronom Andreas Michel, der angehende Hirtinnen und Hirten unterrichtet. Es sei kein Leichtes, bei Minusgraden, Regen und Schnee den ganzen Tag draussen zu sein. «Ein Hirt muss eine stabile Persönlichkeit haben. Physisch und psychisch», sagt Michel. Er muss die Tiere beobachten, sie führen und einzäunen, und dies stundenlang.
Soziale Kontakte bleiben bei diesem Beruf auf der Strecke. «Der Hirt muss die Einsamkeit mögen und sich selbst ertragen.» Michael Fitze glaubt, dass viele Hirten den Bettel hinschmeissen, weil sie es allein nicht aushalten. Ihm fällt es hingegen nicht schwer, selbst wenn er zwei Wochen allein auf einer Alp im dicken Nebel und ohne Handyempfang verbringen muss. Obschon er einen lieben Freundeskreis habe, sagt er:
«Ich fühle mich allein oft weniger einsam als unter Leuten.»
Arbeiten an Wochenenden, Feiertagen und gelegentlich auch nachts gehört zum Hirtenleben dazu. Selbstverständlichkeiten wie duschen, kochen oder Wäsche waschen gestalten sich unterwegs oft kompliziert. Bis im Frühling sind Fitze und seine Familie so unterwegs, ohne Komfort. «Ach was», sagt er.
«Früher, als die Hirten draussen schliefen, hatten sie nur eine Flasche Schnaps gegen die Kälte. Heute haben wir sogar einen beheizten Wohnwagen.»
Gepinkelt wird im Wald, geduscht ab und zu bei seinen Eltern in Teufen. «Es ist ein freies Leben», sagt Fitze. Dass er nicht genau weiss, wo sie ihr nächstes Nachtlager aufschlagen werden, macht ihm nichts aus. «Ich habe das Nomadengen.» Wäre er allein unterwegs könnte er sich von Pasta und Pesto ernähren, fügt er hinzu.
Allerdings sind auch Hirtinnen und Hirten an Vorschriften gebunden. Er muss vor der grossen Wanderung beim Kanton eine Bewilligung einholen. Da er mit den Tieren fremden Boden nutzt, muss die Bauern um Erlaubnis fragen. «Dieses Jahr waren wir zum Glück bei allen willkommen.» Die Bauern seien froh, dass die Schafe die Mäusegänge zertrampeln.
Dass er mit Tieren arbeiten würde, hätte er nie gedacht. In Teufen aufgewachsen, lernte Michael Fitze Zimmermann und war im Gartenbau tätig. Sein Schwager hütete Vieh auf einer Schafalp und fragte ihn, ob er übernehmen könne, da er Vater wurde. Fitze probierte es aus. Das Leben auf der Alp habe einen Suchtfaktor.
Vom Spruch, dass Schafe dumm seien, hält er nichts. Schafe hätten ein ausgezeichnetes Gedächtnis. «Wenn sie irgendwo, etwa auf einer Alp, schon vor einem Jahr waren, finden sie sich bestens zurecht und erinnern sich noch genau an ihren Schlafplatz.» Studien haben zudem ergeben, dass sich Schafe bis zu 50 Gesichter merken können.
Während die Herde in Häggenschwil grast, kommt eine Bauersfamilie auf die Hirten zu. Sie bringen ihnen einen Korb mit einer Kanne Kaffee, Guetzli und einer Flasche Schnaps. Zusammen wärmen sie sich auf, bevor die Reise weiter geht.