ANGEFRESSEN: Dem Biber ist langweilig

Ein Gossauer Rentner stösst bei einer Wanderung durch die Wissbachschlucht auf Spuren eines Bibers. Für den zuständigen Wildhüter wirft das Verhalten des Nagers Fragen auf.

Adrian Lemmenmeier
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Tagsüber dürften Spaziergänger den Biber am Wissbach kaum zu Gesicht bekommen. (Bild: PD)

Tagsüber dürften Spaziergänger den Biber am Wissbach kaum zu Gesicht bekommen. (Bild: PD)

Rainer Eigenmann ist passionierter Wanderer. Alle drei, vier Monate spaziert der 80-jährige Goss­auer von seinem Wohnort in Richtung Degersheim. Der Weg führt entlang dem Wissbach durch eine Schlucht vorbei an einem kleinen Stausee. Hier hat Eigenmann vor einigen Tagen eine merkwürdige Entdeckung gemacht: Zwei Tannen, gut 15 Meter hoch und 40 Zentimeter stark, waren von einem Biber angefressen. «Mehr als die Hälfte der Stämme hat er durchgenagt», sagt Eigenmann. «Ich würde mich nicht wundern, wenn die Bäume mittlerweile in den Weiher gefallen sind.»

So etwas hat Eigenmann in der Wissbachschlucht noch nie gesehen. «Ich wusste, dass es an der Glatt unten Biber gibt», sagt der Gossauer, «aber wie kommen sie hier herauf?» Der Wissbach bildet über weite Strecken die Kantonsgrenze zwischen St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden, ehe er unweit von Gossau in die Glatt mündet. Der Weiher liegt abgelegen, gestaut von einem mehrere Meter hohen Wehr.

Das Verhalten des Bibers verblüfft

Michael Bürge ist Wildhüter des Kreises unteres Toggenburg-Wil. Ihn überrascht es nicht, dass sich ein Biber am gestauten Wissbach an Bäumen verlustiert. «Im Frühjahr müssen die zweijährigen Tiere einer Familie die Gruppe verlassen, um neuem Nachwuchs Platz zu machen», sagt Bürge. «Ich kann mir vorstellen, dass ein junger Biber von der Glatt in die Wissbachschlucht gewandert ist.» Er habe aber die Bäume am Wissbach noch nicht gesehen.

Auf der anderen Seite der Kantonsgrenze ist der Biber kein Unbekannter. «Dieser Biber ist bestimmt schon das zweite Jahr in dieser Gegend aktiv», sagt Roland Guntli, Wildhüter im Kanton Appenzell Ausserrhoden. «Es ist merkwürdig, dass er nun ausgerechnet zwei massive Weisstannen angefressen hat.» Im Normalfall bevorzuge der Biber nämlich weichere Hölzer wie Erlen, Weiden oder Pappeln; das harzige Tannenholz stehe nicht auf seinem Speiseplan. «Es ist natürlich denkbar, dass der Biber die Bäume fällt, um sie für seinen Bau zu verwenden», sagt Guntli. Viel Sinn ergeben würde dies allerdings nicht, denn Bäume mit weichen Stämmen sind am Wissbach ebenso vorhanden. Wildhüter Guntli steht also vor einem Rätsel: «Ehrlich gesagt, glaube ich, dem Biber ist es oftmals ganz einfach langweilig.»

Stausee verliert Wasser wegen Biberbau

Aufmerksam auf den Biber wurde Guntli, weil ihn Fischer, die am gestauten Wissbach angelten, darauf hinwiesen. «Ich habe den Biber nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen», sagt der Wildhüter. «Bei einem Spaziergang dürfte man den Biber tagsüber kaum erblicken», sagt er, «denn Biber sind scheue Tiere.» Damit der Nager in seinem Lebensraum nicht gestört wird, sei es ausserdem wichtig, dass die Leute beim Spazieren die markierten Wanderwege nicht verliessen.

Oberhalb des kleinen Sees hat der Biber – ein Einzelgänger, ist Guntli überzeugt – seinen Bau eingerichtet. Dieser hat die ohnehin spärliche Wasserzufuhr des Weihers weiter eingeschränkt. «Der See verlandet langsam wegen des Biberbaus», sagt Guntli. Ein Problem sieht der Wildhüter darin aber nicht. «Der Biber gestaltet die natürliche Umgebung mit. Das ist völlig normal.» Auch die Fischer hätten sich bis anhin nicht beschwert, sondern zeigten sich erfreut über den Biber am Wissbach. Und schliesslich errichte der Nager seine Unterkünfte nicht für die Ewigkeit. «Der
Biber kann ebenso schnell aus einem Gebiet wieder verschwinden, wie er gekommen ist.»