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Die Freien Anti-Scientology-Aktivisten brauchen für ihre Aktionen in St.Gallen eine Bewilligung der Polizei. Ein Experte hält das für fragwürdig.
Wenn in der St.Galler Innenstadt ein Stand der Scientology oder einer ihrer Unterorganisationen aufgestellt ist, stellen auch sie sich ganz in der Nähe auf: die Freien Anti-Scientology-Aktivisten (Fasa). Mit Schildern machen sie Passanten darauf aufmerksam, dass sich hinter den Namen Dianetik, CCHR (Citizens Commission on Human Rights – Bürgerkommission für Menschenrechte) oder Narconon Scientology verbirgt, und warnen sie mündlich vor der Sekte.
Dabei hat Scientology ihre Präsenz in St.Gallen ausgebaut. 2017 hatte sie – zusammen mit CCHR – noch 26 bewilligte Standaktionen, 2018 waren es 36 und in diesem Jahr ungefähr ähnlich viele.
Nun hat die Stadtpolizei entschieden, dass die Fasa für ihre Aktionen eine Bewilligung brauchen – obwohl sie nur zu zweit unterwegs sind. Doch ist das überhaupt rechtmässig?
Die Stadtpolizei nennt im Brief an die Fasa als Begründung für die Bewilligungspflicht den «gesteigerten Gemeingebrauch des öffentlichen Grundes.» Sie hält zwar selbst fest, dass die Tätigkeit mit weniger als drei Personen «grundsätzlich gemeinverträglich ist und somit keinen gesteigerten Gemeingebrauch darstellt.»
Bei häufigerem Vorkommen könne sie jedoch zu gesteigertem Gemeingebrauch und folglich bewilligungspflichtig werden. Die Stadt stützt sich dabei auf zwei Bundesgerichtsentscheide, insbesondere auf BGE 135 I 302. In diesem ging es um Unterschriftensammlungen der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (Gsoa) in der Stadt St.Gallen.
Die Gsoa hatte eine Bewilligung beantragt für zwölf Tage im Dezember 2006 und für 13 Tage im Januar 2007 an «bevorzugten Orten in der Innenstadt» ohne Stand. Die Stadtpolizei bewilligte ihr aufgrund der damaligen Praxis jedoch bloss jeweils sechs Tage pro Monat. Das Bundesgericht entschied schliesslich, dass diese Beschränkung nicht rechtens sei.
Es hielt im Urteil unter Punkt 3.4 jedoch fest, dass «eine Tätigkeit, die gemeinverträglich ist, solange sie nur von wenigen ausgeübt wird, bei häufigerem Vorkommen zu gesteigertem Gemeingebrauch werden und insoweit von einer Bewilligung oder andern Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann» und verwies dabei auf einen anderen Bundesgerichtsentscheid. Das gelte auch für diese Konstellation.
Dieses Urteil könne jedoch nicht auf den aktuellen Fall angewendet werden, sagt Benjamin Schindler, Professor für öffentliches Recht an der Universität St.Gallen. Eine Bewilligungspflicht gehe zu weit, solange es sich um eine Gruppe von zwei Personen handle; eine einfache Meldepflicht würde es auch tun.
Wenn man das zitierte Urteil als Ganzes und mit dem Sachverhalt lese, werde deutlich, dass das Bundesgericht auf die konkreten Sachumstände des Einzelfalls abstelle und diese gesamthaft würdige. Erst nach dieser Gesamtschau entscheide es, ob schlichter oder gesteigerter Gemeingebrauch vorliege.
Massgebend seien einerseits die örtlichen Verhältnisse (etwa offener Platz oder enges Trottoir, reine Fussgängerzone oder Mischverkehr), dann der Verkehr durch Passanten (Durchgangspassage mit vielen Passanten oder schwach frequentierte Zone) sowie die konkret geplante Aktion (Anzahl Personen, Aufstellen eines Standes, daraus resultierende Personenansammlungen).
In diesem Kontext spiele sicher auch eine Rolle, wie häufig eine Aktion durchgeführt werde. Die Tatsache aber, dass eine bewilligte Standaktion jeweils eine Gegenkundgebung durch gerade einmal zwei Personen ohne Stand nach sich ziehe, führe für sich alleine sicher nicht zu gesteigertem Gemeingebrauch, sagt Schindler.
«Es ist aufgrund der konkret geschilderten Umstände für mich nicht ersichtlich, inwiefern die Nutzung des öffentlichen Raums durch diese zwei Personen konkret beeinträchtigt würde.»
Im Gsoa-Fall, wo es um eine Unterschriftensammlung an fast jedem zweiten Tag während zweier Monate gegangen sei, sei die Häufigkeit für das Bundesgericht auch nicht ausschlaggebend gewesen.
Anders wäre der Fall aber gemäss Schindler zu beurteilen, wenn eine Standaktion von Scientology mehrere Gegenaktionen auslösen würde, sodass ein Durchkommen für Passanten nicht mehr möglich wäre oder andere Standaktionen zur gleichen Zeit deshalb nicht mehr bewilligt werden könnten.
Mit dieser Einschätzung konfrontiert, bleibt die Stadtpolizei dennoch bezüglich der Bewilligungspflicht bei ihrer Auslegung: «Da es seit Juni praktisch bei jeder Aktion von Scientology oder deren Untergruppen eine Gegenkundgebung gab, greift unserer Meinung nach der Punkt 3.4 des Bundesgerichtsentscheides», sagt Mediensprecher Dionys Widmer.
Es gehe nicht darum, die Gegenaktionen zu verbieten. Der Grund liege im konkreten Fall auch nicht in den Vorfällen zwischen den beiden Gruppen. In der Vergangenheit war es zu verbalen Auseinandersetzungen und gegenseitigem Fotografieren gekommen.
Dies sei im öffentlichen Raum erlaubt, sagt Benjamin Schindler. Scientology habe auch keinen Anspruch darauf, dass ihre Standaktionen unwidersprochen blieben, solange die Durchführung als solche nicht verunmöglicht werde oder es zu Gewalttätigkeiten komme. Und das sei hier nicht der Fall. «Ich habe den Eindruck, dass die Stadtpolizei sich hier hinter dem Wörtchen der ‹Häufigkeit› verschanzt, ohne die Argumentationslinie des Bundesgerichts verinnerlicht zu haben und eine ganzheitliche Prüfung vorzunehmen.»
Die Freien Anti-Scientology-Aktivisten (Fasa) haben inzwischen bei der Stadtpolizei zwei Gesuche für Gegenaktionen gestellt. Sie wollen am 7. und am 21. Dezember wieder in St.Gallen präsent sein, wenn Scientology am Multertor beziehungsweise beim Brunnen in der Neugasse mit einem Stand vertreten ist. Das bestätigen die Fasa auf Anfrage. Die Polizei habe das Gesuch bewilligt, sagt Dionys Widmer, Mediensprecher der Stadtpolizei. Zu den Auflagen gehöre unter anderem, dass die Fasa nicht wie bisher zehn Meter Abstand zum Stand der Scientology wahren müssen, sondern 20 Meter – damit es nicht zu Konfrontationen komme. (dag)