Martin Annen wird Nachfolger von Marlis Angehrn, die seit Amtsantritt 2014 im Zentrum eines zunehmend eskalierenden Dauerkrachs mit Kritikern und Lehrervertretung stand. Der personelle Wechsel wird nach Meinung von Stadtredaktor Reto Voneschen nicht reichen, um den Schulstreit zu beenden. Dafür braucht's tiefer gehende Massnahmen.
Anfang August übernimmt Martin Annen die Leitung der Dienststelle «Schule und Musik», des ehemaligen Schulamtes der Stadt St.Gallen. Der 49-Jährige tritt die Nachfolge von Marlis Angehrn an. Eines der derzeit wichtigsten Personalgeschäfte der Stadtverwaltung ist geregelt. Das ist erfreulich.
Bedeutet diese Stellenbesetzung automatisch Ende gut, alles gut? Wer so denkt, ist sehr optimistisch. Er blendet aus, welche Ereignisse der Kündigung von Marlis Angehrn vorausgegangen sind. Der Schulstreit, der seit ihrem Amtsantritt 2014 immer wieder aufflammte, ist mit dem Abgang der umstrittenen Chefin mit Sicherheit nicht endgültig aus der Welt geschafft.
Dies, weil Marlis Angehrn ganz sicher nicht allein für die Eskalation verantwortlich war. Ihr von vielen als zu hart kritisierter Führungs- und Kommunikationsstil war wohl mit ein Faktor für den Krach, im Grundsatz ist ihr für ihre Tätigkeit beim St.Galler Schulamt aber Respekt zu zollen. Einmal dafür, dass sie bei Problemen durchgegriffen und auch heisse Eisen angepackt hat. Zum anderen für ihren Abgang: Sie zog sich aus freien Stücken zurück und machte so den Weg frei für eine neue personelle Lösung. Das eröffnet auch die Chance, Probleme aufzuarbeiten.
Man darf die heutige Situation der Stadtschulen allerdings nicht dramatisieren. Sie sind keine Einrichtung, die vor dem Zusammenbruch steht. Ganz im Gegenteil. In den 60 Kindergärten und 26 Schulhäusern der Stadt St.Gallen leisten rund 800 Lehrkräfte Tag für Tag gute Arbeit. Und das bei gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die immer anspruchsvoller werden.
Diese Tatsache ging ob des während fünf Jahren immer wieder aufflammenden Schulstreits in der öffentlichen Wahrnehmung unter. Das ist bedauerlich: Die Motivation, das Engagement und die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer in ihren Klassenzimmern ist und bleibt ein zentraler Faktor für die Qualität unserer Schulen.
Von den Lehrkräften und dem Personal der Schulverwaltung war der kleinste Teil direkt und aktiv in den Dauerkrach involviert. Trotzdem war er für sie alle eine Belastung. Eine Aufarbeitung ist sicher nötig, damit sich solche Ereignisse nicht wiederholen und das Arbeitsklima belasten. Aber nicht nur deswegen.
Dem Verband Lehrpersonen Sektion St.Gallen (VLSG) stehen gemäss Reglement Mitwirkungsrechte als Personalverband und bei pädagogischen Fachfragen zu. Es gibt also seitens der Schulverwaltung eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit. Für eine solche braucht es beidseits eine tragfähige Gesprächsbasis. Dies damit nicht jeder Konflikt – und solche wird es im Schulalltag immer wieder geben – sofort in eine Beziehungskrise mündet.
Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass nach fünf Jahren Dauerkrach die Zusammenarbeit zwischen der Dienststelle «Schule und Musik» und der Lehrervertretung nicht ganz einfach sein wird. Angesichts der Emotionalität, mit der der Konflikt ausgetragen wurde, gibt es beidseits verletzte Gefühle, Verärgerung und Unverständnis. Da wieder einen Faden, ein unverkrampftes Verhältnis zueinander zu finden, wird nicht einfach.
Und trotzdem müssen die Probleme angegangen werden. Nach dem Abgang der Schulamtsleiterin Ende Januar und der Wahl eines Nachfolgers auf August zur Tagesordnung überzugehen, birgt das grosse Risiko, dass der neue Chef bei der erstbesten Gelegenheit den Krieg mit den Gewerkschaften erbt. Wenn die Eskalationsspirale aber erst einmal dreht, wird es fast unmöglich daraus heraus zu kommen. Auch das hat der lange Schulstreit eindrücklich gezeigt.
Wenn die Aufarbeitung des Konflikts von Erfolg gekrönt sein soll, darf dieser Prozess keine Schuldzuweisungen an einzelne Beteiligte sein. Es braucht eine breite Analyse der Entstehung, des Verlaufs und der Ursachen des Schulstreits. Dies als Basis für eine offene und unvoreingenommene Aussprache der Schuldirektion mit der Lehrervertretung.
Ziel muss sein, das gegenseitig offensichtlich verlorene Vertrauen neu aufzubauen. Ohne das wird’s schwierig bis unmöglich, eine für beide Seiten akzeptable Rollenverteilung bei den Mitwirkungsprozessen zu definieren. Gewerkschafter sind eben keine Befehlsempfänger der Schulverwaltung, sondern Interessenvertreter der Arbeitnehmer. Man darf im Gegenzug von ihnen aber erwarten, dass sie versuchen, Konflikte in erster Priorität am Verhandlungstisch zu lösen, und den Gang an die Öffentlichkeit sparsam und als letztes Kampfmittel einsetzen.
Zu einer tragfähigen Gesprächskultur gehören aber auch weiche Faktoren: dass man den Gesprächspartner ernst nimmt, respektiert und ihm zuhört. In der Vergangenheit, so der Eindruck, haben Schulamt und Gewerkschaften manchmal aneinander vorbei geredet.
Leider muss man aus den Antworten des Stadtrats auf Fragen der CVP/EVP-Fraktion im Stadtparlament schliessen, dass die Notwendigkeit der unvoreingenommenen und selbstkritischen Aufarbeitung des Schulstreits nicht erkannt ist. In einer Interpellationsantwort wird die Schuld am Krach allein den Gewerkschaften zugeschoben. Der Schuldirektor wiederum wurde in den vergangenen Monaten nicht müde, den Streit als Medienproblem darzustellen.
Aus diesen Argumentationen spricht der Glaube, dass nur die anderen Fehler gemacht hätten. Völlig ausgeblendet wird der Fakt, dass der Schulstreit Wurzeln hat, weit vor die Zeit von Schuldirektor Markus Buschor und Schulamtsleiterin Marlis Angehrn zurückreichen.
Völlig ausgeblendet werden auch Direktbetroffene, die mit ihrer Kritik massgeblich zur Eskalation beigetragen haben. Völlig ausgeblendet werden zudem Fehler der Schulverwaltung (wie die vom kantonalen Verwaltungsgericht gerügten formalen Mängel bei zwei Lehrerkündigungen).
Natürlich muss sich in Zusammenhang mit dem Schulstreit auch die Lehrervertretung selbstkritisch hinterfragen. Die Gewerkschaften waren mit öffentlichen Verlautbarungen sehr aktiv an der Eskalation beteiligt. Wortwahl («Klima der Angst») und Dramatik der Medienmitteilungen waren dem Gesprächsklima mit der Schuldirektion sicher nicht förderlich.
Der Eindruck, dass jeweils sehr rasch sehr scharf geschossen wurde, erhält Nahrung durch den Vorwurf der Schuldirektion, der VLSG mache seit Mitte der 1990er-Jahre mit der immer gleichen Wortwahl Stimmung gegen das Schulamt. Angesichts dessen müssten sich die Vertreterinnen und Vertreter der Lehrerschaft fragen, welche alten Geschichten bei ihnen unbewältigt sind.
Wirkt allenfalls der Frust der Einführung der Schulordnung 07 in einigen Köpfen bis heute bewusst oder unbewusst nach? Damals gab’s auch massive Kritik, die Schulbürokratie werde durch Abschaffung des Schulrats zu mächtig.
Selbstverständlich müssen sich auch die Medien über ihre Berichterstattung zum Schulstreit hinterfragen lassen. Das gilt vor allem dort, wo – anders als im Stadtteil des «St.Galler Tagblatt» – anonyme Kritik transportiert oder Marlis Angehrn ohne Möglichkeit zur Stellungnahme als einzige Ursache aller Probleme dargestellt wurde.
In dieses Medienkapitel der Aufarbeitung gehören dann aber auch Fragen zur Krisenkommunikation der Stadt: Sie existierte nämlich schlicht nicht. Wenn die öffentliche Hand so heftig und ausdauernd wie in diesem Fall attackiert wird, muss sie reagieren. Sie kann nicht gewinnen, indem sie ihre unter Dauerbeschuss stehenden Vertreter mit jedem Kritiker Medien-Pingpong um Details spielen lässt.
Spätestens im Herbst 2019 hätte man sich einen Befreiungsschlag gewünscht. Etwa indem sich der Stadtrat an einer Pressekonferenz hinter Schuldirektor und Schulamtsleiterin gestellt und seine grundsätzliche Haltung schlüssig und damit auch glaubwürdig erklärt hätte.