«Der Zug ist wohl abgefahren»: Maria Pappa ärgert sich über den ungenügenden Takt der S-Bahn

Der Fahrplanwechsel brachte der S-Bahn St.Gallen keine Verbesserungen. Stadträtin Maria Pappa spricht über ihren Ärger.

Interview: David Gadze
Drucken
Maria Pappa am Bahnhof Bruggen, einem Sorgenkind der S-Bahn St.Gallen. Der Stadtrat fordert einen Viertelstundentakt für alle Stadtbahnhöfe.

Maria Pappa am Bahnhof Bruggen, einem Sorgenkind der S-Bahn St.Gallen. Der Stadtrat fordert einen Viertelstundentakt für alle Stadtbahnhöfe.

Bild: Michel Canonica

Maria Pappa, hat die Stadt St.Gallen heute eine S-Bahn, die diesen Namen verdient?

Maria Pappa: Nein, das hat sie nicht. Und ich verstehe jeden, der darüber frustriert ist. Ich bin es auch. Und ich bin überzeugt davon, dass wir eine S-Bahn mit einem guten Takt brauchen. Sie wäre eine Verbesserung für die ganze Stadt und deren Entwicklung. Wenn man in einer Stadt wohnt, wo gewisse Kosten höher sind als in der Agglomeration oder auf dem Land, darf man auch mehr Leistungen erwarten. Beispielsweise einen gut ausgebauten öffentlichen Verkehr. Dazu gehört auch eine funktionierende S-Bahn.

Die Neulancierung der S-Bahn St.Gallen ist jetzt sechs Jahre her. Die Euphorie von damals ist längst einer Katerstimmung gewichen. Warum?

Weil man es unterlassen hat, rechtzeitig die Weichen für wesentliche Angebots- und Infrastrukturausbauten zu stellen. Bedeutende Verbesserungen beim ÖV und insbesondere beim Zugangebot brauchen Jahrzehnte. Und jetzt haben wir ein Loch. Ich habe versucht, zu rekonstruieren, wann man es verpasst hat, die Weichen zu stellen – und wer. Leider ist das nicht lückenlos möglich.

Damals kündigte man grosse Verbesserungen an. Der Kanton sprach davon, der Angebotsausbau sei für St.Gallen vergleichbar mit der Einführung der «Bahn 2000» für die Schweiz. Heute klingt diese Aussage wie ein Hohn. Zumal sich das Angebot in den vergangenen zwei Jahren an einigen Stadtbahnhöfen sogar verschlechtert hat. Wie konnte das also passieren?

Im Februar 2014 gab es die Volksabstimmung über die Finanzierung und den Ausbau der Bahninfrastruktur (Fabi). Seit der Schaffung dieses neuen Fonds sind für die Planung und Realisierung grosser Bahnprojekte nicht mehr die Kantone zuständig, sondern der Bund. Ich vermute, dass es bei diesem Wechsel einen Bruch gegeben hat. Die Ostschweizer Kantone haben damals zwar ihre Wünsche beim Bund deponiert, sowohl für den Ausbauschritt 2025 als auch für den nächsten von 2035. Doch die nötigen Investitionen für eine Verbesserung des Takts unserer Stadtbahnhöfe wurden nicht bewilligt.

Um die Kompetenzverlagerung infolge der Fabi-Vorlage wusste man ja im vornherein. Hat es also der Kanton verschlafen?

Das ist einer der Punkte, die ich nicht zurückverfolgen kann. Im Kantonsratsbeschluss vom September 2010 zur S-Bahn St.Gallen, den im November 2010 auch das Volk angenommen hat, heisst es wörtlich: «In der Agglomeration St.Gallen werden Voraussetzungen für einen Viertelstundentakt geschaffen. Die Leistungssteigerung wird durch einen gezielten Ausbau der Schieneninfrastruktur möglich.» Zu jenem Zeitpunkt hatte man das also noch im Fokus. Auch im 2012 verabschiedeten städtischen Richtplan ist ein Viertelstundentakt für die Stadtbahnhöfe festgehalten. Wir wussten zwar schon damals, dass er für die beiden Bahnhöfe Winkeln und Bruggen schwierig zu realisieren sein dürfte. Wir gingen aber davon aus, dass er trotzdem machbar wäre. In den vergangenen Jahren wurde jedoch vom Kanton dem Fernverkehr mit dem Ausbau auf vier Züge pro Stunde nach Zürich deutlich mehr Gewicht gegeben als den Verbesserungen bei der S-Bahn in St.Gallen. Jetzt tragen wir die Konsequenzen.

Hat auch der Stadtrat zu spät reagiert? Schon bei der Einführung der S-Bahn 2013 hätten die Alarmglocken läuten müssen.

Das kann sein. Der Stadtrat hatte aber Grund zur Annahme, dass der in Aussicht gestellte Angebotsausbau auch kommt. Als ich 2017 mein Amt antrat, haben mich verschiedene Fachleute darauf hingewiesen, dass das Ganze ins Stocken geraten ist und die Stadt den Druck auf den Kanton und den Bund erhöhen muss. In den Gesprächen mit dem Kanton haben wir dann realisiert, dass kurz- und mittelfristig keine Verbesserungen möglich sein werden, aus verschiedenen Gründen. Wir haben versucht, über Ständerat Paul Rechsteiner auf nationaler Ebene Einfluss zu nehmen. Doch dafür war es zu spät. Ob es etwas gebracht hätte, schon früher Druck auszuüben, kann ich nach heutigem Kenntnisstand nicht beurteilen.

Der Stadtrat hat im Sommer 2018 in einer Medienmitteilung den Kanton öffentlich kritisiert. Eine ungewöhnliche Massnahme.

Ja, aber nötig, weil wir dadurch die Wichtigkeit des Anliegens betonen wollten. Denn wir fordern schon seit Jahren Verbesserungen bei der S-Bahn in der Stadt. Wir treffen uns mehrmals jährlich mit verschiedenen Gremien und Fachgruppen zum Austausch über den ÖV. Natürlich muss der Kanton die unterschiedlichen regionalen Interessen berücksichtigen, aber er darf dadurch nicht die Bedürfnisse seiner Hauptstadt abschwächen.

Das heisst?

Es ist für die ganze Region wichtig, dass die Hauptstadt ihre Funktion optimal erfüllt. Die ganze Stadt St.Gallen muss gut erschlossen sein, wenn wir Wohn- und Arbeitsplätze generieren wollen. Winkeln ist ein Arbeitsplatzschwerpunkt von kantonaler Bedeutung, St.Fiden ebenfalls, auch wenn dort die ÖV-Probleme kleiner sind. In der Antwort auf den Vorstoss von Thomas Scheitlin und Sonja Lüthi 2018 im Kantonsrat heisst es: «Die Regierung priorisiert ihre Angebotsziele anhand von Faktoren wie der Nachfrage und dem Potenzial.» Es wäre angebracht, die Stadt beim ÖV schwerpunktmässig zu behandeln, als Zentrum der Region und als «Motor» für den Wirtschaftsraum. Die Stadtbahnhöfe dürfen dabei nicht Nebenschauplätze sein. Diese Diskussion führen wir immer wieder.

Wie zeigt sich das?

Vor einem Jahr, vor der Beratung des ÖV-Programms 2019 bis 2023 im Kantonsrat, habe ich diverse Kantonsräte angeschrieben mit der Bitte, sich dafür einzusetzen, dass die S-Bahn in der Stadt prioritär behandelt wird. Keine Chance. Erfreulicherweise haben vor zwei Wochen drei Fraktionen einen Vorstoss für Verbesserungen bei der S-Bahn im Raum St.Gallen eingereicht. Trotzdem stellt sich für uns die Frage, ob die Stadt St.Gallen die Gewichtung erhält, die ihr als Hauptstadt gebührt.

Nimmt der Kanton seine Hauptstadt also zu wenig ernst? Setzt er sich zu wenig für sie ein?

Der Kanton will alle Regionen möglichst gleich behandeln. Das ist schwierig. St.Gallen hat nur schon aufgrund seiner Funktion und Grösse andere Voraussetzungen. Ein Beispiel: Bei Angebotsausbauten auf dem städtischen Busnetz wird bezüglich Kostendeckungsgrad jede Linie einzeln betrachtet, wie auf dem Land. Das macht in einer Stadt keinen Sinn. Wir wollen, dass man in St.Gallen und weiteren Zentren im Kanton das Gesamtsystem beurteilt. Das würde wichtige Verbesserungen beim Busangebot erleichtern. Doch zurück zur S-Bahn: Aus unserer Sicht ist klar, dass es Infrastrukturverbesserungen für den Zugverkehr braucht. Beispielsweise ein drittes Gleis zwischen St.Gallen und Gossau.

Was ist mit dem Wendegleis in der Sommerau in Gossau statt des dritten Gleises bis nach Winkeln?

Kürzlich haben uns die SBB in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Kanton erläutert, dass das Wendegleis die Problematik nicht alleine lösen kann. Es brauche weitere Ausbaten, um einen Viertelstundentakt für Winkeln und Bruggen zu ermöglichen. Die Gesamtsumme dieser Massnahmen ist dabei ähnlich hoch wie diejenige für ein drittes Gleis. Das konnten wir nicht glauben und haben deshalb zur Beurteilung dieser Aussage eine detaillierte Herleitung und Kostenaufstellung verlangt.

Wäre die Stadt bereit, einen finanziellen Beitrag für Verbesserungen bei der S-Bahn zu leisten?

In der Stadt haben sich die jährlichen Ausgaben für den ÖV in den letzten Jahren von 14 auf rund 20 Millionen erhöht. Wesentlich mehr zu leisten wäre schwierig. Deshalb können wir nicht ohne weiteres Kosten übernehmen, die anders finanziert sein müssten.

Der ungenügende Kostendeckungsgrad ist ein weiteres Kriterium des Kantons gegen den Ausbau des S-Bahn-Angebots in der Region St.Gallen. Denn die Passagierzahlen haben sich seit 2013 nicht wie gewünscht entwickelt. Das verhindert letztlich auch Infrastrukturinvestitionen des Bundes.

Der tiefe Kostendeckungsgrad ist nicht verwunderlich, wenn das Angebot so schlecht ist. Wir wären auch bereit, das Busangebot auf gewissen Linien in der Längsachse zu reduzieren, wenn dafür die S-Bahn besser wäre. Deshalb haben wir den Kanton beauftragt, mögliche Ersparnisse auszurechnen.

Man muss also festhalten: Es fehlt eine gemeinsame Vision für den öffentlichen Verkehr in der Stadt St.Gallen, die der Kanton aus Überzeugung mitträgt.

Visionen der Stadt gibt es. Und der Kanton hat sie bisher formell unterstützt. In den Antworten auf unsere Wünsche und Forderungen gibt es jedoch immer ein «Aber». Denn für eine Realisierung braucht es eine Priorisierung durch den Bund, welche derzeit fehlt.

Wie geht es jetzt weiter?

Mein grösster Frust ist, dass ich das Gefühl habe, es gehe nicht weiter. Der Zug für einen Viertelstundentakt in Winkeln und Bruggen bis 2035 ist wohl abgefahren. Und es dauert lange, bis der nächste kommt. Wir müssen froh sein, wenn bis 2040 überhaupt etwas passiert. Meine Hoffnung ist, dass die neuen Nationalräte aus dem Wahlkreis St.Gallen in Bern allenfalls doch noch die eine oder andere Weiche für den Ausbauschritt 2035 anders stellen können. Es wäre ein Kraftakt. Trotz allem müssen wir uns dafür einsetzen, dass der Viertelstundentakt an den Stadtbahnhöfen bis 2035 möglich ist. Wenn man es gemeinsam will, gibt es vielleicht einen Weg. Deshalb müssen wir weiterhin probieren, auf allen Ebenen Einfluss zu nehmen.