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Das grosse Gesicht am Unteren Graben setzt in der Stadt einen Farbtupfer, finden die Betreiber der Offenen Kirche. Anderer Meinung ist der Kanton. Er hat verfügt, dass das Wandbild wieder übermalt werden muss.
Vor wenigen Tagen hat Theodor Pindl vom Kanton überraschende Post erhalten. Der Intendant der Offenen Kirche war davon ausgegangen, dass das Graffiti an der Fassade des Gebäudes unbefristet bewilligt würde. Denn gegen ein solches Baugesuch waren keine Einsprachen eingegangen. Doch die kantonale Denkmalpflege ist nun gegen die Bemalung. Diese zeige «keinerlei Respekt gegenüber dem historischen Gebäude», heisst es im Schreiben des Kantons. Das Graffiti habe «mit der Architektur dieses bedeutenden Versammlungsbaus nicht nur nichts zu tun, sondern negiert diese vollständig».
Als temporäre Installation sei das Graffiti vielleicht noch tragbar gewesen. Doch eine unbefristete Bewilligung, wie sie der Verein Wirkraum als Betreiber der Offenen Kirche beantragt hatte, komme nicht in Frage. Die Bemalung sei eine «Beeinträchtigung des Bildes im Grenzbereich der Altstadt». Deshalb, so verfügt das kantonale Departement des Innern, sei das Graffiti bis Ende Mai zu entfernen.
«Wir sind enttäuscht», sagt Theodor Pindl. Die Argumentation der Denkmalpflege sei nicht stichhaltig, und auf seine Argumente sei der Kanton gar nicht eingegangen. Etwa auf die Tatsache, dass die St. Galler Bevölkerung das Gesicht überwiegend herzlich willkommen geheissen habe. Oder darauf, dass das Kunstwerk für manche inzwischen sogar identitätsstiftend sei.
«Vorher war die Offene Kirche kein Anziehungspunkt, jetzt ist sie es. Das zeigen unsere Besucherzahlen, die auch dank des Graffiti deutlich gestiegen sind.»
An Heiligabend 2015 hatte Pindl noch Grund zum Feiern gehabt. Die Stadt unterstützte damals sein Vorhaben, das Gebäude an der Böcklinstrasse mit einem grossen Wandbild zu verschönern, und bewilligte es befristet auf zwei Jahre.
Im Juni 2016 machten sich also drei Graffiti-Künstler an die Arbeit und sprayten ein brasilianisches Frauengesicht an die Fassade. Bei der Vernissage des Wandbilds geriet Theodor Pindl ins Schwärmen: «Die Künstler haben es geschafft, etwas zum Ausdruck zu bringen, wozu Worte allein nicht fähig sind.» Das Gesicht sei ein Plädoyer für Vielfalt und Weltoffenheit. Es breche zudem die klassizistische Architektur des Bauwerks auf und bereichere das Stadtbild mit einem Farbtupfer.
Wenig Verständnis für die Wandgestaltung hatte allerdings der Sohn des Architekten Ernst Kuhn. Als er vom Graffiti am Bau seines Vaters erfuhr, schaltete er sich per Anwalt ein und forderte den Verein Wirkraum Kirche auf, das Wandbild unverzüglich zu entfernen. Es beeinträchtige das Ansehen seines Vaters erheblich und begründe damit «eine persönlichkeitsverletzende Entstellung des urheberrechtlich geschützten Werks», heisst es in einem Schreiben vom September 2016.
Wirkraum Kirche kam dieser Aufforderung nicht nach. Bis heute seien Konsequenzen ausgeblieben, sagt Theodor Pindl. Der jüngsten Verfügung des Kantons aber werde man nachkommen. «Wir werden den Fall nicht weiterziehen, aus personellen und finanziellen Gründen.» Bald wird das Gesicht also übermalt.
Was danach mit der Offenen Kirche passiert, ist noch offen. Alle Zeichen deuten aber auf Abbruch. Der Kanton plant auf dem Areal einen neuen HSG-Campus; die kantonale Abstimmung dazu ist am 30. Juni. Erst danach wird ein Architekturwettbewerb klären, ob die Kirche stehen bleibt.
Die Offene Kirche wurde 1924/25 als «First Church of Christian Scientist» gebaut. Bis 2012 stand das Gebäude unter Denkmalschutz. Im aktuellen städtischen Inventar der schützenswerten Bauten ist es aber nicht mehr zu finden. Doch nach wie vor ist für Bauvorhaben an der Offenen Kirche die Zustimmung der kantonalen Denkmalpflege nötig. Die Kirche sei «Bestandteil eines Gebiets, das im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung verzeichnet ist», schreibt der Kanton in seiner Verfügung. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Altstadt gälten erhöhte Anforderungen – Anforderungen, denen das Graffiti nicht gerecht werde. (rbe)