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Der brutale Angriff auf einen Senior war das grosse Gesprächsthema am St.Galler Weihnachtsmarkt. Eine offene Frage: Weshalb hielt niemand den Angreifer von der Flucht ab? Derweil liegt das 84-jährige Opfer der Attacke weiterhin mit schweren Kopfverletzungen im Spital. Der Angreifer ist nach wie vor auf der Flucht.
«Es ist erschreckend, wie tief der Respekt vor Mitmenschen gesunken ist», sagt der 25-jährige Michael Lips. Er steht am Montagmittag hinter einem Glühweinstand direkt beim St.Galler Waaghaus. Und ist betroffen von der Meldung, die sich am Vorabend wie ein Lauffeuer am Weihnachtsmarkt verbreitete: Ein Unbekannter hat einen 84-Jährigen attackiert und schwer verletzt.
Laut Florian Schneider, Mediensprecher der St.Galler Kantonspolizei, ging der 84-Jährige am Sonntag kurz vor 17 Uhr vom Waaghaus in Richtung Marktplatz. Dabei traf er auf den späteren Angreifer. Die Polizei mutmasst, dass sich die beiden Männer im Gedränge zunächst zufällig angerempelt haben könnten. Florian Schneider sagt:
«Wir stützen diese Vermutung auf entsprechende Zeugenaussagen.»
In der Folge eskalierte die Situation: Der Unbekannte packte den Senior und stiess ihn heftig. Das Opfer prallte dabei rücklings auf den Boden und zog sich schwere Kopfverletzungen zu. Doch damit nicht genug: Laut Zeugenaussagen soll der Unbekannte den 84-Jährigen nochmals hochgehoben und ihn dann erneut auf den Boden fallengelassen haben. Dass der Attacke verbale Provokationen vorausgingen, sei eher nicht anzunehmen, sagt Schneider.
Der 84-Jährige musste in der Folge schwer verletzt ins Spital eingeliefert werden. Er konnte von der Polizei bis am Mittwochnachmittag noch nicht befragt werden.
Dem unbekannten Angreifer gelang derweil die Flucht in Richtung Katharinengasse. Zeugen beschrieben ihn laut Polizeiangaben als «schwarzhäutigen Mann mit kurzen, schwarzen Haaren». Der Gesuchte ist ungefähr 185 Zentimeter gross und wird auf 30 bis 40 Jahre geschätzt. Trotz eines Zeugenaufrufs und einiger zusätzlicher Hinweise, die daraufhin eingingen, gelang es der Polizei vorerst nicht, die Identität des Verdächtigen festzustellen, wie Florian Schneider sagt.
Michael Lips vom Glühweinstand wurde am Montagvormittag diverse Male auf den Gewaltvorfall angesprochen. Dass trotz des grossen Publikumsaufkommens am frühen Sonntagabend offenbar niemand eingeschritten ist, um den Angreifer an der Flucht zu hindern, bestürzt den 25-jährigen St.Galler. Er kommentiert:
«Jeder sieht, dass etwas passiert, aber keiner will sich einmischen.»
Abgesehen von diesem Vorfall habe er den St.Galler Weihnachtsmarkt als ruhig erlebt – die Menschen seien sehr anständig und freundlich, sagt Lips.
Anderer Stand, dasselbe Bild: «Ja, ich bin heute Morgen schon auf diesen Vorfall angesprochen worden», sagt Armando Zanella aus Schweizersholz. Die brutale Tat selbst mitbekommen hat er allerdings nicht – er sei erst eine halbe Stunde später zu seinem Stand gekommen und dann von seinem Mitarbeiter informiert worden, hält der 60-Jährige fest.
Für Zanella ist es «himmeltraurig», dass offenbar niemand reagiert hat, um den Angreifer an der Flucht zu hindern. «Handkehrum: Wenn man eingreift, ist man am Schluss noch der Dumme – solche Leute haben doch mehr Rechte als alle anderen!», ärgert er sich.
«Hetze ist das letzte, was wir in unserer Gesellschaft brauchen!», sagt ein weiterer Standbetreiber, der anonym bleiben möchte. Er warnt vor vorschnellen Verurteilungen und betont, die genaueren Umstände des Vorfalls seien unklar. Heinrich Rodel dagegen nimmt kein Blatt vor den Mund: «Das ist doch einfach eine Sauerei!», sagt der Karussellbetreiber aus Zürich. Obwohl sich die Attacke in der Nähe seines Kassenhäuschens ereignet hat, wurde er erst auf den Vorfall aufmerksam, als der Krankenwagen vor Ort kam. «Zunächst war ich davon ausgegangen, dass jemand vielleicht einen Glühwein zu viel gehabt hatte», sagt er rückblickend.
Früher sei die Hemmschwelle noch höher gewesen, sagt Heinrich Rodel – insbesondere vor alten Menschen habe man noch mehr Respekt gehabt. Der 55-Jährige wäre nach eigenem Bekunden eingeschritten, wenn er den Vorfall beobachtet hätte. Rodel will aber nicht den Stab über jenen Marktbesuchern brechen, die den Angreifer entwischen liessen:
«Heutzutage muss man vorsichtig sein. Manchmal ist es vernünftiger, einen Schritt zurück zu machen oder dann als Gruppe einzuschreiten. Sonst hat man schnell einmal das Messer im Bauch.»
Letztlich müsse jeder selber entscheiden, was er tue und was nicht, sagt der Karussellbetreiber weiter. Ganz grundsätzlich habe er den St.Galler Weihnachtsmarkt als friedlich erlebt, lobt auch er. «Es ist wirklich sehr schade, dass das jetzt noch passieren musste.»
Seit 13 Jahren ist Bernhard Steffen Marktleiter am Weihnachtsmarkt St.Gallen. Einen Vorfall wie die Attacke auf den 84-Jährigen hat er in all diesen Jahren nie erlebt, wie er sagt. Steffen bestätigt das Bild einer grundsätzlich sehr ruhigen Veranstaltung, das auch die Marktfahrer zeichnen:
«Der St.Galler Weihnachtsmarkt verläuft generell friedlich. Und es gibt hier auch wenig alkoholisierte Besucher – das ist beispielsweise nicht zu vergleichen mit einer Olma.»
Bedenken, dass das Image des Weihnachtsmarktes aufgrund dieser Attacke Schaden nehmen könnte, hat Steffen nicht: «So etwas könnte auch an jedem anderen Anlass passieren», sagt er.
Hinweise zum Angriff auf den 84-Jährigen sind erbeten an die St.Galler Kantonspolizei, Telefon 058-229-33-56.