Als junger Lokführer transportierte er deutsche Kriegsgefangene über die Grenze: August Fust verbrachte sein Leben auf Schienen

Den 100-jährigen August Fust zog es als Lokführer und als Rentner in alle Ecken der Schweiz.

David Grob
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August Fust mit der Ae 610, einer der bekanntesten Elektrolokomotiven der SBB.(Bild: Ralph Ribi)

August Fust mit der Ae 610, einer der bekanntesten Elektrolokomotiven der SBB.
(Bild: Ralph Ribi)

Die Wohnungstür im dritten Stock des weissen Wohnblocks in Haggen ist bereits geöffnet, August Fust steht im Türrahmen, adrett gekleidet, und stützt sich auf seinem Gehstock ab. Dass er kürzlich seinen 100. Geburtstag gefeiert hat, ist im ganzen Block sichtbar – am Briefkasten, an der Tür, im Eingangsbereich: Überall hängen Gratulationsplakate.

August «Gust» Fust führt in die Stube, vorbei an schweren Holzmöbeln und einem Glaskasten mit Miniaturlokomotiven, Spurbreite H0, und setzt sich in einen blassgrünen Polstersessel. Und beginnt zu erzählen: von der Kindheit, von der Familie, von der Pension. Vor allem aber von der Arbeit als SBB-Lokführer.

Die Jahre der Wanderschaft

Warum er sich für diesen Beruf entschieden habe? Fust überlegt kurz und sagt nüchtern: «Sicherheit.» Fust schildert, wie er, gelernter Maschinenschlosser, in Neuhausen arbeitete. Die Aufträge gingen zurück, er nahm eine Stelle im Aargau an, die Situation blieb weiter unsicher. Also absolvierte Fust 1941 die Prüfung zum Lokführer. Er bestand. Ein Jahr später, am 15. Juni 1942 – Fust erinnert sich genau an das Datum –, konnte er bei den SBB anfangen.

Es folgten Jahre der Wanderschaft: Zürich, Romanshorn, Rorschach, St.Gallen, Winterthur – Orte, in denen Fust jeweils nur kurz blieb. Die SBB riefen und versetzten. Und Fust folgte dem Ruf.

«Ich war jung und ungebunden.»

In Romanshorn musste er gar einen Vertrag unterschreiben, am Bodensee zu bleiben. Zu wenige wollten freiwillig am Ende einer Bahnlinie arbeiten, die noch nicht elektrifiziert war. Seine Wanderzeit war 1948, inzwischen wieder nach St.Gallen versetzt, vorbei. «Ich habe geheiratet. Sonst hätte ich wieder umziehen müssen», sagt Fust. Aber Sie haben schon nicht nur geheiratet, um nicht wieder gehen zu müssen? Er lacht. «Ich wäre später wieder versetzt worden, aber habe mich geweigert.»

Ein Tänzchen in der Lokremise

Tage zuvor in der Lokremise, früher Depot für Lokomotiven, heute Kulturlokal. Eine Blas­musikkapelle aus ehemaligen Lokführern spielt «Happy Birthday», Stadtpräsident Thomas Scheitlin hält eine Rede, Familie, Freunde, Ex-Arbeitskollegen feiern «Gusts» 100. Geburtstag. Das Lokalfernsehen und die Eisenbahnzeitung berichten. Und Fust freut’s. Im Beitrag von TVO lässt er sich gar zu einem Tänzchen hinreissen.

Jetzt sitzt Fust auf der Kante des Polstersessels, die Hände abgestützt auf seinem Gehstock, die Wanduhr tickt. Nein, spezielle Geschichten habe er nur wenige erlebt, sagt Fust. Und erzählt dann doch. Davon, wie er als junger Lokführer 1944, damals noch mit einer Dampflokomotive, deutsche Kriegsgefangene über die Grenze nach Konstanz transportierte und französische im Gegenzug in die Schweiz zurückführte. Oder wie er Jahre später im Rheintal ein Auto rammte, das im falschen Moment die Schienen überqueren wollte.

Fragt man Fusts Umfeld, wie er als Vater ist, wie er als Arbeitskollege war, so erhält man eine Antwort: ein stets optimistischer Mensch. Ex-Arbeitskollege Reto Germann, der die Feier in der Lokremise organisiert hat, beschreibt August Fust als gesellig und offen. Sohn Karl Fust sagt:

«Er war stets nach vorne orientiert. Ein Menschenfreund. Das ist sein Lebenselixier.»

Er nennt ein Beispiel. Jenes Jahr, als Fusts Frau einen Hirnschlag überlebte. Täglich habe sein Vater sie im Heim besucht, Spaziergänge mit ihr unternommen und den Rollstuhl gestossen. «Er hat das als seine Aufgabe betrachtet.»

Mit dem GA durch die Schweiz

Auch als Rentner blieb Fust stets aktiv. Er arbeitete als Haus­abwart in einer Alterssiedlung. 21 Jahre lang. «Das ist noch lange nicht alles», sagt Fust, lacht und erzählt weiter. So habe er beim Bergheuen im Appenzellerland mitgearbeitet. Mit über 80.

Der Bahn blieb Fust stets verbunden. Mehrmals pro Woche nahm er den Zug und liess sich übers Schweizer Schienennetz treiben. Teils kurze Ausfahrten in der Region. Teils längere Reisen mit dem GA durch die ganze Schweiz. St.Gallen–Basel–Bern –Mittagessen in Brig–Simplon– Domodossola–Kaffeehalt in Locarno–Zürich–St.Gallen. «Was wollte ich sonst machen?», fragt Fust.

Es ist ein kurzer Moment, in dem Einsamkeit spürbar wird. Ein kurzer Moment, in dem ein Schatten über Fusts Gesicht fällt. «Ich kann nicht mehr fort.» Ein Sturz im März und seine fortschreitende Blindheit verhindern weitere Ausflüge.

Meistens, wenn Fust spricht, schweift sein Blick hinaus aus dem Fenster hin zum Horizont, nur selten blickt er in die Augen seines Gegenübers. Der Blick kann Verschiedenes bedeuten. Etwa dass Fust mit seiner altersbedingten Sehschwäche in die Ferne etwas besser sieht als in die Nähe. Oder aber dass es ihn, den 100-Jährigen, der sein Leben auf Schienen verbracht hat, weiterhin in die Ferne zieht, wenn er denn könnte. Mit einem Zug in alle Ecken der Schweiz.