Dass eine Krise auf dem Balkan im Sommer 1914 zum «Weltbrand» wurde, überraschte die meisten St. Galler Zeitgenossen. Hier standen die Wochen nach dem Attentat von Sarajevo im Zeichen des sommerlichen Festprogramms. Diese Festlaune wurde Ende Juli 1914 abrupt gestört.
Am 28. Juni 1914 wurden in Sarajevo, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin von einem serbischen Extremisten erschossen. Einen Monat und ein abgelehntes Ultimatum später erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg. Was in einer hektischen Abfolge von Mobilisierungen und Kriegserklärungen dazu führte, dass sich am Abend des 6. August die Grossmächte Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen, Frankreich, Grossbritannien und Russland auf der anderen Seite im Krieg befanden.
Die Bevölkerung der international stark verflochtenen Textilmetropole St. Gallen nahm regen Anteil an den Geschehnissen. Wie Stadt und Kanton den Kriegsausbruch und die folgenden Jahre erlebten, schildert derzeit in einer öffentlichen Vorlesungsreihe an der Uni St. Gallen der Historiker Max Lemmenmeier. Im ersten Vortrag zeigte er unter anderem auf, wie das Attentat von Sarajevo nach dem 28. Juni 1914 nur relativ kurze Zeit im Zentrum des allgemeinen Interesses stand (Tagblatt vom 20. Februar).
Danach gab es in St. Gallen Wichtigeres zu tun: Die im Sommer üblichen Ausflüge und Feste standen auf dem Programm. Die Stadt sei «in Festlaune» gewesen, belegt Max Lemmenmeier mit Zeitungsinseraten und -berichten über einschlägige Anlässe. Unter anderem feierte die Stadt sich und ihre boomende Stickereiindustrie am 14. Juli 1914 mit einem rauschenden Kinderfest.
Am 24. Juli, einen Tag vor Ablauf des österreichischen Ultimatums an Serbien, machten sich die Stadtsänger mit rund 100 Teilnehmern auf ihre traditionelle Sängerreise, die sie nach Salzburg, Bad Gastein und Bozen führte. In Bad Gastein gaben sie gemäss Zeitungsberichten ein Konzert, das mit der österreichischen Nationalhymne und Hochrufen auf den österreichischen Kaiser beendet wurde.
Ab dem 25. Juli 1914 kippte die Stimmung in St. Gallen. Die Ablehnung des österreichischen Ultimatums durch Serbien löste Kriegsängste aus. Das drückte sich dadurch aus, dass man sich eifrig an Stammtischen oder im Freien traf. Die Aushänge, die die Tageszeitungen betrieben, wurden zunehmend belagert. Das ging so weit, dass es am 25. Juli vor dem Gebäude des St. Galler Tagblatts einen Ordnungsdienst brauchte, damit neue Bulletins ausgehängt werden konnten.
Ab dem 28. Juli setzte ein Run auf Lebensmittelgeschäfte und ein «Sturm» auf die Banken ein. Alle Aufrufe, Ruhe zu bewahren, nützten nichts: Viele Sparer wollten ihr Geld. Gefragt waren vor allem Münzen, weil man dem Papiergeld, darunter einer erstmals ausgegebenen 20er-Note, nicht traute. Vor der Kantonalbank etwa bildeten sich lange Menschenschlangen. Und das Gerücht, die Bank sei bald zahlungsunfähig, beruhigte die Situation keinesfalls. Eine Entspannung der Situation für die Banken trat erst um den 5. August 1914 herum ein. (vre)
Stadt und Kanton St. Gallen im Ersten Weltkrieg (1914–1918): Öffentliche Vorlesungsreihe an der Universität, 25.2. und 4.3.2014, 18.15–19.45, Raum HSG 01-U203.