So viel Kokain wie noch nie

ST.GALLEN. Die Stadtpolizei hat St. Gallen kürzlich als «Kokain-Hotspot» bezeichnet und den Kampf gegen Strassendealer einmal mehr intensiviert. Doch abseits der Strasse wird mindestens genauso fleissig gedealt und konsumiert.

Urs-Peter Zwingli
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Kokain wird eher im Privaten und von beruflich integrierten Menschen konsumiert. Auf der Gasse dominiert Heroin. (Bild: ky/Martin Ruetschi)

Kokain wird eher im Privaten und von beruflich integrierten Menschen konsumiert. Auf der Gasse dominiert Heroin. (Bild: ky/Martin Ruetschi)

Ein Wochenende in St. Gallen in den frühen Morgenstunden. In der Männertoilette eines Clubs in der Innenstadt stehen drei Personen Schlange vor den beiden Kabinen. Dass sie wirklich aufs WC müssen, glaubt niemand.

«Erzähl mir doch nicht, dass diese Leute alle morgens um ein Uhr scheissen müssen», sagt Tom. Der gebürtige Zürcher ist 30 Jahre alt, wohnt seit fünf Jahren in St. Gallen und nimmt am Wochenende regelmässig Kokain. Unter der Woche arbeitet er bei einer Versicherung. Er bezeichnet sich selber als «normalen, unauffälligen Typ».

Es ist unwichtig, wo sich die Szene abspielt; man kann sie Woche für Woche in praktisch allen St. Galler Clubs beobachten. «Ich bin viel unterwegs und habe das Gefühl, Koks ist im Nachtleben so verbreitet wie noch nie», sagt Tom.

Gestreckt und dreckig

Vor drei Wochen ging die Stadtpolizei mit einem nigerianischen Drogenfahnder auf Streife. Die Aktion richtete sich gegen die auf der Strasse sichtbaren Aktivitäten nigerianischer Kokainhändler. Denn obwohl die Polizei seit Jahren eine repressive Strategie fährt, hat sich die Situation in der Innenstadt kaum verändert. «Heute sind sogar mehr Koksdealer unterwegs als früher», sagt Tom. Vor rund vier Jahren, als er erstmals Kokain konsumiert habe, sei die Qualität des Stoffs auf der Gasse trotzdem viel besser gewesen. «Jetzt gibt's fast nur noch dreckige, gestreckte Ware. Bei den Strassendealern kaufen darum nur Anfänger – oder Kokser, die dringend etwas brauchen.»

Diese Beobachtung bestätigt der ehemalige Staatsanwalt Patric Looser. Er war bis Ende August während dreier Jahre beim kantonalen Untersuchungsamt für Betäubungsmitteldelikte zuständig und hat sich dabei vor allem mit der Kokainszene beschäftigt. «Als ich anfing, betrug der Reinheitsgrad des Strassenkokains noch über 40 Prozent. Seither hat sich die Qualität massiv verschlechtert.» Das liegt eher am Gewinnstreben der Dealer als an mangelndem Nachschub: Looser schätzt, dass pro Woche in der Stadt «mehrere Kilo Kokain verkauft und konsumiert werden». St. Gallen versorge als Zentrumsstadt zudem die ganze umliegende Region.

«Koks ist für die Schnösel»

Gekauft und konsumiert wird Kokain vorwiegend von Menschen wie Tom. «Der typische Kokainkonsument ist integriert und arbeitstätig. Einen steigenden Konsum beobachten wir zudem in Bildungsinstitutionen für Erwachsene», sagt Jürg Niggli, Geschäftsführer der Stiftung Suchthilfe. Unter Randständigen hingegen sei nebst Alkohol nach wie vor Heroin die am meisten verbreitete Droge. Kokain werde auf der Gasse eher «ergänzend» konsumiert. Manchmal von Süchtigen, die im Methadon- oder im Heroinprogramm seien und «hin und wieder einen Kick suchen», sagt Niggli.

Nachfragen an Treffpunkten von Randständigen in der Innenstadt bestätigen: «Koks ist für die Schnösel. Auf der Gasse wird viel mehr Sugar, also Heroin, konsumiert», sagt einer, der selber seit Jahren auf Heroin ist. Heroin sei zum gleichen Grammpreis wie Kokain – knapp 100 Franken – erhältlich, habe aber ebenfalls oft einen sehr tiefen Reinheitsgrad.

Gute Ware ist teuer und gefragt

Der Heroinhandel in der Stadt ist laut Angaben eines weiteren ehemaligen Staatsanwaltes der Betäubungsmittelgruppe, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, in der Hand von Banden aus Serbien. Diese hätten zwar auch versucht, im Kokainhandel Fuss zu fassen, «doch die Nachfrage fehlte. Die Konsumenten haben sich beim Kokain auf Schwarze <eingeschossen>». Nebst den Händlern auf der Strasse, die vor allem an wechselnde Kunden verkaufen, gibt es auch Dealer mit einem eher fixen Kundenstamm. Diese Deals spielen sich oft in Privatwohnungen ab. «Wenn man länger in der Szene unterwegs ist, kommt man an solche Quellen», sagt Tom. Das dort angebotene Kokain sei von erheblich besserer Qualität als auf der Strasse und deshalb gefragt – und teurer: «Wenn einer gute Ware hat, kaufst du trotzdem grössere Mengen. Man weiss nie, wann wieder einer von der Polizei erwischt wird.» Die Bitte um ein Gespräch mit seinem Dealer blockt er dann aber ab: «Zu riskant für mich.»