Vadian Auch wenn in St. Gallen für 1517 keine reformatorischen Aktivitäten nachzuweisen sind, kann man davon ausgehen, dass die von Luther veröffentlichten Thesen hier schnell bekannt wurden. Neuigkeiten gelangten rasch in eine Stadt, die damals mit ganz Europa durch Handelsbeziehungen verbunden war. St. Galler Kaufleute waren hochmobil und vernetzt. Die Verbindung des Textilunternehmens der Berner Familie Diesbach mit der St. Galler Familie von Watt, aus welcher der Reformator Vadian stammte, ist das beste Beispiel dafür. Vadian waren Kommunikation und Vernetzung quasi in die Wiege gelegt.
Die Reformation in St. Gallen war – wie andernorts auch – ein jahrelanger Prozess, bei dem weltliche und kirchliche Führungsgruppen kooperierten. Und auch in St. Gallen muss man davon ausgehen, dass sie nicht allein die Leistung einer einzelnen, herausragenden Figur war. Vadian, der nach seiner Studien- und Lehrzeit an der Universität Wien 1518 nach St. Gallen zurückkam, war bei diesem Prozess aber unbestreitbar die führende Person.
Vadian hat sich an schriftlichen und mündlichen theologischen Auslegungen beteiligt, aber offenbar selber nicht gepredigt. Seine Rolle muss man in Zusammenhang mit seinem politischen Gewicht sehen. Gemäss stadträtlichem Beschluss vom 5. April 1524 mussten alle Predigten einzig der biblischen Schrift folgen. Vadian war seit 1521 Mitglied der Stadtregierung und wurde 1526 zum Bürgermeister gewählt; von seinem politischen Einfluss und Geschick hing nun im Wesentlichen ab, ob sich die Reformation durchsetzen würde. Eine heikle Phase war dabei die Entfernung der Heiligenstatuen und -bilder aus den Kirchen. Ausser im Kloster waren diese Anfang 1529 schon entfernt.
Bürgermeister Vadian leitete auch die Räumung der Klosterkirche, wobei er darauf bedacht war, dass dies nicht gegen eine Mehrheit der Schutzmächte des Klosters und der reformierten Verbündeten, allen voran der Stadt Zürich, geschah. Der Inbesitznahme des Klosters St. Gallen ging 1527 die Aufhebung der beiden Frauenklöster auf Stadtgebiet, also von St. Leonhard und St. Katharinen, voraus.
Mit der Niederlage der Reformierten und dem zweiten Kappeler Landfrieden drehte der Wind dann wieder. Im Februar 1532 wurde in Wil über die Gültigkeit des 1529 erfolgten Verkaufs des Stiftsbezirks durch zwei Schirmorte an die Stadt sowie über die Wiederherstellung des Klosters und allfällige Entschädigungsforderungen des Abtes verhandelt. Vadian plädierte dabei für eine nachgiebige Position, um tiefergehenden Schaden für die Stadt zu verhindern. Er vertraute darauf, dass das Benediktinerkloster «mit Gottes Hilfe» irgendwann dann schon vom reformierten Glauben überzeugt werden könne: «Das Stündli wird, wie man spricht, ouch komen.» Dieses «Stündli» kam dann zwar nicht, aber in der Stadt St. Gallen konnte sich die Reformation tatsächlich durchsetzen. (so)