Mit der Kanone die Stadt wecken

Ein Knall und die Gallusstadt weiss Bescheid: Das Kinderfest findet statt. Für die Böllerschüsse in aller Herrgottsfrühe ist Roland Uhler zuständig. Auf der Falkenburg böllert der 47-Jährige die Stadt mit einer alten Kanone aus dem Schlaf.

Alexandra Pavlovic
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Es ist 6 Uhr. Ein erster Knall. Spätestens jetzt sind die meisten Bewohner der Gallusstadt wach. Wer den Krach noch nicht gehört hat, der wird nach vier Minuten erneut geweckt. Päng. Weitere vier Minuten verstreichen, bis schliesslich auch der letzte Schuss zu hören ist. Dank Chef-Kanonier Roland Uhler wissen die Stadtbewohner, dass das Kinderfest definitiv durchgeführt wird. Mit der einzigen Kanone des Kantons böllert der 47-Jährige quasi alle von der Falkenburg aus in den Festtag hinein.

Brauch erhalten

Seit gut 20 Jahren steht Roland Uhler als Chef-Kanonier jeweils am Kinderfest neben der Kanone und sorgt mit dem «Einschiessen» für den entsprechenden Lärm in den frühen Morgenstunden. Wozu aber braucht das Kinderfest überhaupt eine Kanone? Das sogenannte «Einschiessen» habe einen historischen Hintergrund, sagt Uhler. «Da früher die Leute zwischen den einzelnen Quartieren weit auseinander gewohnt haben und kaum einer ein Telefon besass, kündigten die Schüler das Kinderfest mit Schüssen an.» Die Kanone sei quasi das SMS von heute. Gestern fielen jeweils drei Schüsse von der Falkenburg. Im Grütli, auf dem Kinderfestplatz und im Burenbüchel waren jeweils drei Böllerschiesser am Werk.

Vorliebe für alte Maschinen

Damit der Brauch auch weiterhin erhalten bleibt, erhält der Kanonier tatkräftige Unterstützung von seinen zwei Buben. Die beiden 14- und 15-Jährigen sind wie ihr Vater begeistert von historischen Geräten und begleiten ihn nun schon seit der ersten Klasse mit auf die Falkenburg. «Sie helfen mir jeweils beim Vorbereiten der Kanone und später auch beim Reinigen», sagt Uhler. Gleichzeitig lehre er ihnen dabei die Bedienung des Gerätes. «Ich hoffe, dass sie eines Tages in meine Fussstapfen treten.» Der im Schoren aufgewachsene 47-Jährige hatte schon immer eine Vorliebe für alte Maschinen. Nicht nur das. «Wenn du zusehen kannst, wie die Lunte langsam brennt und es danach einen grossen Knall gibt, ist das einfach unbeschreiblich», sagt Uhler. Es sei nicht nur das Zusehen oder der laute Knall, nein, auch wenn der Rauchgeschmack zu riechen sei, kribbele es bei ihm immer. So war es bereits als 22-Jähriger sein grösster Wunsch, beim Militär in der Artillerie zu landen. «Leider wurde nichts daraus», sagt er. Stattdessen wurde er in die Militärküche eingeteilt. Vermutlich da er damals als Bäcker arbeitete. Doch Uhler gab nicht auf. Ein Hintertürchen blieb offen, denn sein Bruder wurde – im Gegensatz zu ihm – in die Artillerie eingeteilt. Und so fand er schliesslich doch noch irgendwie den Weg dorthin.

Glück im Unglück

Die Arbeit als Kanonier scheint beim Familienvater auch nach über 20 Jahren nicht an Reiz verloren zu haben. Es sei erstaunlich, welche Geschichte ein solch historisches Gerät wie die 100 Kilogramm schwere Kanone hinter sich habe und erzählen könne. «Das Rohr wurde 1743 in Lyon gegossen», sagt er. Nach den napoleonischen Kriegen kam es zusammen mit Appenzeller Söldnern in die Ostschweiz. «Die einen interessieren sich für Briefmarken, mich faszinieren nun mal alte Waffen.» Heute gehört die einzige Kanone des Kantons dem Artillerieverein St. Gallen. Mit ihr wird nicht nur am Kinderfest geschossen, sondern auch am Barbaratag und an Veranstaltungen. Eine ist Uhler besonders gut in Erinnerung geblieben: Bei seinem ersten Schiessen sei einiges schiefgelaufen. In Rheineck habe der Artillerieverein die Fasnacht eröffnen müssen. Der Präsident habe ihm ein Kilogramm Schiesspulver gegeben und ihn gebeten, den Startschuss zu machen. «Ich hatte keine Ahnung, wie viel Pulver ich ins Rohr füllen musste, so habe ich alles genommen.» Das war zu viel. Im Rathaus seien nach dem Schuss alle Fenster geborsten.

Viel Erfahrung

Heute würde das dem erfahrenen Kanonier nicht mehr passieren. 150 Gramm Schiesspulver werden am Tag des Kinderfests pro Schuss mit einem Schöpfer ins Rohr gelegt. Dieser wird einmal umgedreht, so dass das Pulver liegen bleibt. Im Anschluss wird Zeitungspapier hineingestopft, und wenn es so weit ist, wird die Lunte mit einem Feuerzeug angezündet. Diesen Vorgang wiederholt Uhler dreimal. Danach ist Schluss. Dann kann auch für ihn das Kinderfest beginnen. Wie lange er noch hinter der Kanone stehen will, weiss er nicht. Die Kanone halte locker noch 1000 Jahre.