Startseite
Ostschweiz
Um eine Baulücke am Mühlensteg tobt ein Rechtsstreit. Die Stadt St.Gallen hat an der zentralen Lage einen Neubau bewilligt, doch Anwohner wehren sich gegen die Pläne. Es sei verantwortungslos, die Sicht auf den Stiftsbezirk zu verbauen.
«Hier fängt es an», sagt Richard Hirzel und streckt die Hände aus, als wollte er den Dom umarmen. Er steht dort, wo sich die Berneggstrasse von der Felsenstrasse abzweigt, und blickt über die Dächer des Stiftsbezirks. Hirzel, der als Clown Pic bekannt ist, liebt diesen Ausblick. Seit 40 Jahren wohnt er im Quartier und beobachtet Touristen, die an dieser Stelle ein Erinnerungsfoto schiessen, oder Badegäste, die auf dem Weg von Drei Weieren ins Stadtzentrum innehalten. Ein einmaliger Ort, sagt Hirzel: «Mir fällt kein ähnlicher, öffentlicher, naher und damit unmittelbarer Aussichtspunkt zur südlichen Altstadt und dem Klosterviertel ein.» Hier habe man keine distanzierte «Postkartenaussicht» wie etwa auf Drei Weieren, nein: «Man sieht hier in das Herz der Stadt.»
Seit Neustem kämpft der 68-Jährige zusammen mit einem Anwohner-Ehepaar und per Anwalt dafür, diesen Ausblick zu bewahren. Die Stadt hat nämlich zwischen Mühlensteg und Berneggstrasse just dort ein Bauprojekt bewilligt, wo Spaziergänger heute noch den Dom fotografieren. Bauherrin ist die Treuhandfirma Bolli aus Winterthur, die gleich neben der freien Parzelle schon ein Wohngebäude rundum erneuert hat. Nun plant sie in der Baulücke am Mühlensteg 8 (heute noch 8a) ein weiteres Gebäude. 17 kleine Stadtwohnungen sollen dort entstehen, die sich dank Lift auch für ältere Bewohner eignen.
Gegen das Bauprojekt gab es von Anfang an Widerstand. Mehrere Einwohner legten Einsprache ein und kritisierten den Schattenwurf des Gebäudes, dessen Dimensionen und immer wieder: das Wegfallen des Blickes auf die Altstadt. Auch der Heimatschutz St. Gallen-Appenzell Innerrhoden argumentierte in einer Stellungnahme, das geplante Gebäude verbaue «den einmaligen Blick auf die Dächerlandschaft». Richard Hirzel weist ausserdem auf die günstigen Mietwohnungen in dem Gebäude unterhalb der Bauparzelle hin, die mit einem Neubau «völlig verschattet» würden. Auch deshalb wehrt er sich gegen die Baupläne. Dass die Parzelle schon lange Bauland ist, lässt er nicht gelten: Mittlerweile sei der Stiftsbezirk Unesco-Weltkulturerbe, da sei die öffentliche Hand gefordert. «Ich finde es verantwortungslos, dass die Stadt so etwas zulässt.»
Es gibt allerdings gute Gründe, weshalb die Stadt am Mühlensteg ein Bauprojekt zulässt. Dies geht aus den Erwägungen der Baubewilligungskommission zum Fall hervor. «Mit dem Neubauprojekt wird eine bestehende Baulücke in anspruchsvoller baulicher Umgebung (geschütztes Ortsbild Mülenen) ortsbaulich und gestalterisch überzeugend geschlossen», schreibt die Kommission. Und weiter: «Das Projekt vermag ortsplanerisch und architektonisch zu überzeugen.»
Das Projekt gefiel den Experten aber nicht von Anfang an. Bis zur Baubewilligung sind die ursprünglichen Pläne mehrfach überarbeitet worden. Die Parzelle liegt an einem Steilhang zwischen zwei Strassen mit 13 Metern Höhenunterschied. Das Gelände gehört auch zum geschützten Ortsbild Mülenen, wo sich Neubauten besonders gut in die Umgebung einfügen müssen. Dies hat beispielsweise Auswirkungen auf die Gestaltung der Fassaden und Fenster sowie auf die Wahl der Materialien und der Farben. Schon vor dem eigentlichen Baugesuch beugten sich deshalb die Experten des Sachverständigenrats für Städtebau und Architektur über die Pläne und gaben eine Beurteilung ab.
In einer Stellungnahme betonte die Bauherrin, dass es sich bei ihrem Projekt nicht um ein Renditeobjekt handle, sondern um verdichtetes Bauen. Es bestehe ein Bedarf nach kleinen Wohnungen, gerade bei älteren Leuten, die auf den Lift angewiesen seien und ohne Auto in der Stadt wohnen möchten. Der Schattenwurf des Gebäudes sei wegen der Hanglage vernachlässigbar. Die Parzelle sei Bauland, man könne dort nicht auf einer Freihaltepflicht bestehen.
Die Stadt hat das Projekt im Dezember bewilligt. Es stehe im Einklang mit dem Zonenplan und dem Baurecht. «In diesem Zusammenhang kann die Baubewilligung nicht mit dem Verweis auf einen angeblich schönen Aussichtspunkt auf die Klosteranlage verweigert werden», heisst es im Entscheid.
Richard Hirzel ist anderer Meinung. Deshalb geht er mit dem Fall an die Öffentlichkeit, deshalb zieht er ihn weiter an die nächste Instanz. Schon in den 1970er-Jahren engagierte er sich gegen zwei Bauvorhaben. Mit seinen Freiluftzirkussen trug er entscheidend dazu bei, dass es den Pic-o-Pello-Platz heute noch gibt (und, dass er nicht einer Autobahnzufahrt weichen musste), und, dass das Frauenbad Dreilinden nicht abgerissen wurde. Am Mühlensteg hat Hirzel nicht vor, als Clown Pic in Erscheinung zu treten. Er hat sich vielmehr einen Anwalt genommen und gegen den Entscheid der Stadt beim kantonalen Baudepartement Rekurs eingelegt. Mit einem Entscheid ist frühestens im Herbst zu rechnen.