1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen. Das wird 500 Jahre später als Startpunkt der Reformation gefeiert. Auch in der Stadt St. Gallen. Hier setzte die Reformation einige Jahre später ein und wurde stark vom Universalgelehrten Vadian geprägt.
Stefan Sonderegger
1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen, die den Anstoss zur Reformation gaben. Der Augustinermönch war 1508 an die Universität Wittenberg berufen worden, wo seit der Gründung 1502 Recht, Theologie und Medizin unterrichtet wurden. Der St. Galler Johannes Kessler, der später zusammen mit Vadian zu den führenden Köpfen der Reformation in der Ostschweiz gehören sollte, studierte 1522 in Wittenberg und war fasziniert von Luthers Lehre. In seiner Reformationschronik (der sogenannten Sabbata) schildert Kessler den St. Galler Alltag und die Ereignisse in Zusammenhang mit der Reformation zwischen 1519 und 1539.
Aber wo stand St. Gallen 1517? Die Stadt hatte keine Universität, war aber trotzdem «international» – dank Handelsbeziehungen und Bündnissen mit anderen Städten des Reichs. Hier war man auf dem Laufenden darüber, was in Europa geschah. Politisch war St. Gallen 1517 vom Kloster befreit; bereits 1457 hatte sich die Stadt losgekauft. Huldigungen gegenüber dem Abt gehörten damit der Vergangenheit an. St. Gallen war mit seinem Hoheitsgebiet von vier Quadrat- kilometern eine «freie Insel» im weitläufigen Territorium des Klosters, wo der Abt als Fürst des Reiches über seine Untertanen regierte.
Zu Beginn der Reformation war St. Gallen mit geschätzten 3000 bis 4000 Einwohnern im europäischen Vergleich eine mittelgrosse Stadt. Als Grossstädte bezeichnete man damals jene mit mindestens 10000 Einwohnern. Das waren auf dem Gebiet der heutigen Schweiz nur Basel und Genf. Es gab mehr als 1000 Städte in Europa, die so gross oder grösser als St. Gallen waren. Allerdings waren die meisten von ihnen wirtschaftlich nicht so bedeutend: Im 15. Jahrhundert hatte St. Gallen als Textilstadt die Führung des erweiterten Bodenseegebietes errungen. Das Ostschweizer Leinwandgewerbe entwickelte sich während des 16. und 17. Jahrhunderts zum bedeutendsten Exportgewerbe der Eidgenossenschaft.
Was St. Gallen exportierte, konnte nicht alleine in der Stadt hergestellt werden. In die Tuchproduktion wurde das Umland eingespannt, allerdings ohne rechtliche Bindung zwischen Stadt und Land. Im Gegensatz zu Luzern, Freiburg, Solothurn, Zürich und Bern verfügte die Stadt St. Gallen über kein politisch von ihr beherrschtes Territorium. Zürich und Bern waren riesige Stadtstaaten, die durch den Kauf von Land samt den dazu gehörenden Rechten die Herrschaft über die Landbevölkerung ausübten. Bereits Ende des 14. Jahrhunderts hatte das Territorium der Stadt Zürich fast das Ausmass des heutigen Kantons Zürich erreicht. Bern war der grösste Stadtstaat nördlich der Alpen überhaupt.
Und St. Gallen? Auch ohne offizielles Territorium hatte die Reichsstadt Einfluss auf das Umland. Faktisch gesehen musste der Abt die Herrschaft über sein Territorium mit der Stadt teilen. Die Stadtobrigkeit, das städtische Spital und reiche Textilhandelsherren kauften im Umkreis von 30 bis 40 Kilometern Höfe, Pflanzland, Herrschaften (beispiels- weise Grimmenstein, Oberberg) oder Hafenanlagen mit Konzessionen (wie Steinach). Dieser Besitz im äbtischen Territorium diente der städtischen Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen (zum Beispiel mit Flachs für die Tuchherstellung).
Der Handel zwischen Stadt und Land, aber auch über den See war für St. Gallen existenziell. 1517 war die heutige Nordostschweiz, ausgehend vom Zentrum St. Gallen, bereits so stark in die Textilherstellung eingebunden, dass die Landwirtschaft vernachlässigt wurde. Korn aus Schwaben, das per Schiff nach Steinach und auf dem Landweg nach St. Gallen und in die umliegenden Orte gelangte, war zentral für die Ernährung. Bildlich ausgedrückt stellte der Besitz der Stadt und von Städtern quasi städtische Inseln im fremden Territorium dar. Mit diesen sicherte sich die reiche Reichsstadt ihre Interessen im Umland.
Apropos reich: St. Gallen war 1517 im Vergleich mit anderen Städten dank des Textilhandels eine wohlhabende Stadt. Dies kann aus der Entwicklung der Steuereinnahmen geschlossen werden. Der städtische Haushalt wurde zu einem Grossteil mit Steuern finanziert, die seit Anfang des 15. Jahrhunderts jährlich erhoben wurden. Auch diesbezüglich bildet St. Gallen eine Ausnahme: Städte mit Untertanenland wie Zürich und Bern erhoben nicht regelmässig, sondern bei Bedarf Steuern, und dabei liessen sie die Untertanen auf dem Land kräftig mitzahlen. Das war für St. Gallen ohne eigenes Untertanengebiet nicht möglich, die Landbevölkerung bezahlte ihre Steuern – wenn überhaupt – dem Abt.
Andere eidgenössische Städte und Länder verdienten zudem Geld im Solddienst. Auch St. Gallen unterzeichnete Verträge mit Frankreich, welche das Anwerben von Söldnern erlaubten. Aber es ging nicht primär um die ökonomische Bedeutung der Solddienste, sondern um eine möglichst gute Beziehung zum französischen König und damit um die Sicherung günstiger Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Die französischen Städte, allen voran seit dem 16. Jahrhundert Lyon, waren wichtige Stationen des St. Galler Fernhandels. Soldverträge mit Frankreich zu verweigern, hätte den Handel mit Frankreich und damit verbundene Privilegien gefährdet.
Stefan Sonderegger ist Stadtarchivar der Ortsbürgergemeinde St. Gallen.