GESELLSCHAFT: Alle sitzen auf der gleichen Bank

In der Calatrava-Halle auf dem Bohl begegnen sich ungeduldig wartende Fahrgäste und Menschen, die sich dort mit Dosenbier oder einem Joint die Zeit vertreiben. Je später die Stunde und je höher der Pegel kann das zu Friktionen führen.

Daniel Wirth
Drucken
Calatrava-Halle auf dem Bohl: Hier begegnet sich St. Gallen. (Bild: Urs Bucher (17. September 2013))

Calatrava-Halle auf dem Bohl: Hier begegnet sich St. Gallen. (Bild: Urs Bucher (17. September 2013))

Daniel Wirth

daniel.wirth@tagblatt.ch

«Gopfertammisiech!». Johnny flucht. «Gopfertammisiech!». Johnny hat sich mit seinem linken Fuss, der in einem abgewetzten Halbschuh mit Klettverschluss steckt, eine Halbliter-Dose Bier der Marke «Prix Garantie» umgestossen. Sie stand auf dem Boden. Der weisse Schaum fliesst langsam den Asphalt hinunter, bis er den Bordstein erreicht und die Schienen der Appenzeller Bahnen füllt. Johnnys Kollege schläft. Er ist müde. Dafür ist sein Hund hellwach. Der Mischling sieht aus, als hätte er gerade einen Sturm mit Böen der Windstärke 12 überlebt, total gegen den Strich gebürstet. Er bellt so laut, dass es einem durch Mark und Bein geht. Etwas ungepflegt wirkt auch sein müdes Herrchen, aber im Gegensatz zum Hund friedlich. Fünf Meter daneben warten eine ältere Frau und ein Banker auf den VBSG-Bus. Sie sitzen auf der gleichen Bank wie Johnny, schütteln den Kopf, stehen auf und wenden sich ab. Es ist ihnen sichtlich unwohl neben den jungen Männern, die am Rande der Gesellschaft leben und sich in der Calatrava-Halle die Zeit um die Ohren schlagen. Sie sind froh, als der 11er-Bus ankommt und sie nach Hause fahren wird. Derweil geht Johnny im nahen Coop City die nächsten Dosen billigen Bieres kaufen.

Die sozialen Schichten im Gleichgewicht

Solche Szenen spielen sich auf dem Bohl im Stadtzentrum regelmässig ab. Jürg Niggli, Geschäftsführer der Stiftung Suchthilfe St. Gallen, weiss das. «Leute, die Zeit haben, halten sich dort auf, wo etwas läuft», sagt er. Und stellt die Frage: «Warum sollen diese Leute nicht dort sein?» Mit «diese Leute» meint er die Klienten der Suchthilfe. Er kann gut verstehen, dass sich Fahrgäste, die auf den Bus oder den Zug warten, fürchten vor Randständigen; vor allem dann, wenn diese in grosser Zahl in der Calatrava-Halle sässen, laut seien und obendrein ihre Hunde nicht an der Leine hielten. Doch das sei längst nicht jeden Tag der Fall, sagt Niggli. Die Problematik spitze sich dann zu, wenn es regne.

Für Jürg Niggli ist die Calatrava-Halle ein gutes Beispiel dafür, dass in St. Gallen ein friedliches Nebeneinander von Menschen sämtlicher sozialer Schichten möglich sei. Die Suchthilfe und die Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit seien bemüht, dass in der Calatrava-Halle ein soziales Gleichgewicht herrsche. Es werde regelmässig an die Klienten appelliert, sich nicht zu lange und nicht in zu grosser Zahl am Bohl aufzuhalten und ruhig zu sein. «Es ist alles eine Frage des Mass und des Verhaltens», sagt Niggli. Er und seine Mitarbeitenden könnten es Klienten nicht vorschreiben, sich in der Gassenküche oder im «Blauen Engel» im Katharinenhof aufzuhalten. Beides sind Institutionen für Menschen mit Suchtproblemen.

Niggli sagt, er kenne eine 90 Jahre alte Frau, die habe ihm erzählt, erst als sie in der Calatrava-Halle mit den Randständigen gesprochen hatte, merkte sie, dass das liebenswürdige Leute seien. Niggli wünscht sich, dass mehr «normale» Menschen mit den Randständigen in Kontakt treten.

Oft in Kontakt mit Randständigen sind die Stadtpolizisten. Sie sind täglich auf dem Bohl präsent – ihre Mission heisst Prävention.

Repression nur bei rechtswidrigem Verhalten

«Der öffentliche Raum ist für alle da», sagt Andreas Scherrer, Leiter der Abteilung Prävention bei der Stadtpolizei. Bier trinken auf dem Bohl sei nicht verboten. Wie Niggli ist auch Scherrer der Meinung, dass ein friedliches Nebeneinander von Menschen jedwelcher Gesellschaftsschicht in der Calatrava-Halle möglich sei. Diese sei in erster Linie eine Wartehalle für Fahrgäste. Auf eine Bank setzen dürften sich dort aber alle. Die Polizei suche mit den Randständigen das Gespräch, wenn sich diese sehr lange und in grosser Zahl auf dem Bohl aufhielten. «Dann bitten wir sie, weiter zu gehen.» Repressiv handle die Polizei erst dann, wenn sich jemand rechtswidrig verhalte.