Man weiss es auch an der Hochschule für Logopädie in Rorschach: Es gibt immer mehr Kinder und Erwachsene mit Sprachstörungen. Rektor Jürg Rothenbühler über Gründe, lange Wartelisten und veränderte Therapieformen.
Jürg Rothenbühler: In der Schweiz gibt es nur Schätzwerte. Zu beachten ist, dass die Logopädie nicht nur Sprechstörungen, sondern allgemein Störungen der gesprochenen und geschriebenen Sprache umfasst. Auch Stimm- und Schluckprobleme gehören dazu sowie im weiteren Sinne Kommunikationsprobleme. Betrachten wir also alle diese Formen von Störungen, können wir tatsächlich von einer Zunahme der Störungen sprechen.
Rothenbühler: Auffallend ist, dass es immer weniger Angebote für Sprache gibt. Vor allem zu Hause bei den Familien. Manchen Eltern fehlt aus beruflichen Gründen die Zeit, andere sind sich einfach nicht gewohnt, regelmässig miteinander zu kommunizieren. Mit den Kindern wird viel zu wenig gesprochen. Auch neue Medien spielen eine Rolle: Vor dem Computer oder vor dem Fernseher können Kinder bestimmt nicht sprechen lernen. Der direkte Kontakt der Kommunizierenden ist unumgänglich, die Kinder müssen Mund- und Zungenbewegungen des Gegenübers sehen können. Ein weiterer Grund für die Zunahme von Sprachstörungen könnte auch sein, dass heute mehr Frühgeborene überleben als früher. Frühgeburtlichkeit kann nämlich mit ein Grund dafür sein, dass es in der Sprachentwicklung zu Einschränkungen kommt.
Rothenbühler: Das stimmt, heute achtet man generell mehr auf die Sprache. Das finde ich gut, denn Kinder mit Störungen werden früher erfasst, früher erkannt und früher den Therapien zugeführt.
Rothenbühler: Mehrsprachigkeit kann eine Rolle spielen, ist aber bestimmt kein entscheidender Faktor. Im Gegenteil, für viele Kinder ist sie sogar von grossem Vorteil.
Rothenbühler: Bei den Kindern handelt es sich meist um eine Kombination von verschiedenen Symptomen. Sie können etwa einzelne Laute nicht aussprechen, haben einen kleinen Wortschatz, können Sätze nicht korrekt bilden. Häufig treten sie in Verbindung mit Problemen beim Sprachverständnis auf.
Rothenbühler: Bei den Erwachsenen gibt es eine grosse Zunahme von Schluckstörungen. In der Klinik werden sie besser erkannt. Auch Hirnverletzungen und Lähmungen von Sprechorganen können Ursachen für Sprachstörungen bei Erwachsenen sein. Unsere Abteilung für Forschung und Entwicklung beschäftigt sich zurzeit mit einer Forschungsarbeit zum Thema Erwachsene. Wir wollen herausfinden, wie gut die logopädische Versorgung von erwachsenen Patienten in der Schweiz ist. Insgesamt hat die Logopädie an Bedeutung gewonnen.
Rothenbühler: Die Nachfrage ist ungebrochen. Insgesamt bilden alle vier Institutionen in der deutschen Schweiz mehr Fachkräfte für Logopädie aus als noch vor zehn Jahren. Unsere Absolventinnen und Absolventen finden alle schnell eine Anstellung. Angebot und Nachfrage stimmen heute gut überein. Ich denke nicht, dass wir die Anzahl unserer Studienplätze ausbauen müssen.
Rothenbühler: Ich glaube nicht. In einigen Kantonen lässt sich sogar ein Abbau der Stellen beobachten. Zum Beispiel in Solothurn und Bern. Der Kanton St. Gallen ist eher zurückhaltend mit neuen Stellen. Obwohl viele Logopädinnen über lange Wartelisten klagen. Viele Kinder, die eine Therapie nötig hätten, müssen warten.
Rothenbühler: Logopädinnen haben lange Zeit für sich alleine gearbeitet. Die Kinder wurden ausserhalb der Schule therapiert. Durch die Integrationsbestrebungen ist es nun so, dass Logopädinnen mehr in den Schulen präsent sind und dort Aufgaben zur allgemeinen Sprachförderung übernehmen. Davon können dann alle Kinder profitieren. Jene mit Sprachstörungen brauchen aber nach wie vor Einzeltherapien.
Rothenbühler: Indem wir neue Module eingeführt haben. Erfahrene Primarlehrerinnen und Logopädinnen führen die Studierenden gemeinsam in das neue Wirkungsfeld ein. Auch die Prävention im Sinne von allgemeiner sprachlicher Förderung ist ein neuer Aspekt in der logopädischen Arbeit, auf die wir unsere Studierenden vorbereiten.
Interview: Lea Müller