Christian Crottogini verlässt nach 27 Jahren die Stiftung Suchthilfe. Er erinnert sich an nächtelange Sitzungen im Drogenelend der 90er-Jahre. Und er erklärt, warum es die Stiftung auch heute noch braucht.
Roger Berhalter
Verwahrloste Junkies sind aus dem Stadtbild verschwunden, ebenso die offene Drogenszene. Hat die Stadt ihr Drogenproblem im Griff?
Beim Heroin hat sich die Situation stark verbessert. Zum Vergleich: Heute gibt die Stiftung Suchthilfe knapp 7000 Spritzen pro Monat heraus. In den 90er-Jahren waren es noch 3000 Spritzen pro Tag. Damals war klar: So kann es nicht weitergehen.
Sie schlugen in der Drogenpolitik in den 90er-Jahren den so genannten St. Galler Weg ein, der schweizweit Schule machte. Was war daran neu?
Wir beendeten die Grabenkämpfe zwischen Polizei und Repression auf der einen Seite und medizinischer und sozialer Hilfe auf der anderen Seite. Um das komplexe Drogenproblem in den Griff zu bekommen, mussten wir zusammenspannen.
Das klingt selbstverständlich.
Damals war der Ansatz neu. Ich erinnere mich an viele gemeinsame Sitzungen mit dem Polizeikommandanten, dem Stadtrat und dem stellvertretenden Kantonsarzt. Nächtelang fragten wir uns: Wie können wir das Problem lösen?
Wie konnten Sie das Problem lösen?
Es brauchte Konzessionen auf allen Seiten. Man kann gegen Drogen nicht einfach mit mehr Repression vorgehen oder einfach mehr Therapieplätze anbieten. Bis heute bin ich skeptisch gegenüber Leuten mit Patentrezepten in der Drogenpolitik. Das St. Galler Modell besteht seit den 90er-Jahren aus vier Säulen: Nothilfe, Repression, Prävention und Therapie.
Wenn Sie auf 27 Jahre Stiftung Suchthilfe zurückblicken: War Ihre Arbeit erfolgreich?
Wir konnten eine Situation schaffen, in der erstens Süchtige respektvoll behandelt werden. Wenn sie Hilfe brauchen, wissen sie, an wen sie sich wenden können. Zweitens fühlt sich die Öffentlichkeit heute durch die Drogensüchtigen nicht mehr bedroht. Das Problem steht nicht mehr zuoberst auf der politischen Traktandenliste.
Warum braucht es die Stiftung Suchthilfe heute noch?
Damit die Situation so bleibt. Zum Beispiel braucht es täglich Absprachen zwischen der aufsuchenden Sozialarbeit und der Polizei, damit sich keine zu grossen Gruppen bilden. Acht Süchtige in der Calatrava-Halle am Bohl sind kein Problem. Wenn es aber 30 sind, fühlen sich die Leute gestört oder haben Angst. Damit es nicht soweit kommt, ist nach wie vor viel Arbeit nötig.
Welche Droge bereitet Ihnen heute am meisten Sorgen?
Der Alkoholkonsum bleibt ein Problem. Ebenso die Zunahme der vielen synthetischen Drogen, die nur schwer zu kontrollieren sind. Aber auch der Umgang mit Onlinemedien kann zu einem Suchtproblem werden. Wenn sich jemand in seine Computerwelt zurückzieht, kann das für die Familie sehr belastend sein. Die Beratungsstelle der Stiftung Suchthilfe ist da im Moment sehr aktiv.
Derzeit boomt der Markt für legales Cannabis mit sehr wenig THC. Wird illegales Gras bald verschwinden?
Das ist schwer abzuschätzen. Zweierlei spricht dagegen: Einerseits ist das legale Cannabis sehr teuer. Anderseits hat der Konsum von illegalem Cannabis auch ein Protestpotenzial: Jugendliche wollen sich damit abgrenzen.
Würden Sie Cannabis legalisieren?
Nein. Cannabis mit unkontrolliertem THC-Gehalt wird unterschätzt und kann verheerend wirken. Heutiges Cannabis ist in der Regel um einiges potenter als noch vor 20 Jahren. Das ist ein Unterschied wie zwischen Bier und Schnaps.