Dieser Richter war nie Rebell

ST.GALLEN. Seit 1. Juni präsidiert Dominik Scherrer das St.Galler Kantonsgericht. Der 58jährige Rorschacher wollte schon sehr früh Richter werden und hat den Entscheid nie bereut. Er ist bescheiden, ausgeglichen, überkorrekt – auch privat.

Marcel Elsener
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Der Kantonsgerichtspräsident hockt sich auf den Brunnen vor seinem Büro – untypisch spontan. (Bild: Hanspeter Schiess)

Der Kantonsgerichtspräsident hockt sich auf den Brunnen vor seinem Büro – untypisch spontan. (Bild: Hanspeter Schiess)

Hier Rorschach, dort Rapperswil: Hinter seinem Schreibtisch mit Blick auf Kathedrale und Klosterwiese hängt eine Luftaufnahme der Bodenseestadt aus dem Jahr 1922. Am andern Ende des Büros, gegenüber, prangt ein Ausschnitt eines historischen Wandgemäldes von Rapperswil, restauriert mittels Lotteriefondsgeldern und trotz Begehren des Kulturamtes dem Kantonsrichter überlassen.

«Ein prächtiges Bild», sagt Dominik Scherrer und lacht: «Nur dass es den falschen See zeigt.» Man merkt ihm an, dass dies für seine Verhältnisse ein flotter Spruch ist. Tatsächlich sollte es im langen Gespräch mit dem Kantonsgerichtspräsidenten seine frechste Aussage bleiben. Scherrer ist ein zurückhaltender, zufriedener Mensch, statt auf Zuspitzung auf Mässigung bedacht. Und auf Bescheidenheit.

«Zu 125 Prozent integer»

Eigenschaften, die einem Richter gut anstehen. Und die in diesem Fall besonders ausgeprägt sind. Wer sich bei Arbeitskollegen nach Scherrer erkundigt, erhält rundum ähnliche Antworten: Zu 125 Prozent integer. Unbestechlicher geht nimmer. Überkorrekt, aber im Gegensatz zu andern nicht aus Unsicherheit. Kollegial auch gegenüber Kollegen tieferer Instanzen. Kein Bluffer, sozial denkend und handelnd. Hat das Charisma natürlicher Autorität, auch wenn man es ihm nicht gleich ansieht. Als Chef ein Gärtner, der seine Untergebenen befruchtet, und kein Velofahrer, der sich nach oben bückt und nach unten strampelt. Aus seiner Ära am Gericht in Rorschach werden Legenden erzählt, wie: Den Kuchen einer Frau, die ihm seine Engelsgeduld beim Abstottern ihrer Schulden verdankte, wies er zwar nicht zurück, ass selber aber kein einziges Stück davon.

Dominik Scherrer schmunzelt, will aber solche «Lobhudeleien» nicht hören. Lieber erklärt er seinen Beruf mit Mani Matters Lied «Ir Ysebahn», in dem sich zwei Parteien je nach Sitzrichtung in der Eisenbahn in die Haare geraten, bis der Zug fährt und der Kondukteur die nächste Ortschaft nennt: Rorschach… Und er greift zu einer berühmten Karikatur zum Verhältnis von Recht, Gesetz und Gerechtigkeit: «Um es gerecht zu machen, bekommt ihr alle dieselbe Aufgabe», erklärt da ein Richter einer Tiergruppe mit Vogel, Affe, Elefant, Goldfisch, Seelöwe und Hund: «Klettert auf den Baum!»

Immer auf Ausgleich bedacht

Vor fünf Jahren als Nachfolger von Rolf Vetterli ans Kantonsgericht gewählt, macht Dominik Scherrer über das jetzt turnusgemäss angetretene Präsidentenamt kein Aufhebens. Doch die Freude, nach 21 Jahren am Kreisgericht die Hektik und Kleinräumigkeit des dortigen Arbeitsfeldes hinter sich zu haben, verbirgt er nicht. Im «richtigen Alter» fühlt er sich, gerade im Familienrecht mit «menschlich sehr belastenden Fällen» sei eine «grössere Lebenserfahrung sehr hilfreich», meint er. «Für einen 30jährigen Richter ist es schwierig, einem älteren Ehepaar Ratschläge zu erteilen.»

Die Gerichtsleitung hat Scherrer just 40 Jahre nach seinem Vater inne, Josef Leo, der von 1966 bis 1984 Kantonsrichter und von 1975 bis 1977 Präsident war. Ebenfalls 40 Jahre her sind es seit seiner Matura in St. Gallen und dem Beginn des Rechtsstudiums in Fribourg. Obwohl er im Gymnasium Griechisch belegte, um sich eine theologische Laufbahn offenzuhalten, wusste er an der Uni bald, was er werden wollte: «Ohne Zweifel Richter. Ich war immer sehr auf Ausgleich bedacht. Also wäre ich ein schlechter Anwalt geworden.» In der Berufung bestärkt wurde er von seinen Lehrmeistern – Doktorvater Bernhard Schnyder und Gion Cavelti, Gerichtspräsident in Rorschach; dort wirkte Scherrer zunächst als Gerichtsschreiber.

Besorgt über Werteverlust

Die katholische Universität Fribourg entsprach der Herkunft aus christlichsozialem Haus – genauso wie die CSP als politische Heimat gegeben war. Für die Christlichsozialen sass Grossvater Josef Scherrer im Nationalrat. Der Enkel politisierte für die CVP, 1989/90 auch im Stadtrat Rorschach, ein Amt, das er nach der Wahl ans Bezirksgericht sofort aufgab.

Heute ist Dominik Scherrer froh, «nicht in der Politik hängengeblieben zu sein», wenn auch das Interesse gross geblieben ist – von der regionalen bis zur internationalen Politik interessiert ihn als eifrigen Zeitungsleser alles gleichermassen. Zu denken gibt ihm vieles, erst recht aus beruflicher Perspektive, zum Beispiel: «Was in Bern passiert, hat oft Mehrbelastungen für die Gerichte und höhere Kosten zur Folge. Anders gesagt: Man sollte kein Gesetz machen, das man nicht durchsetzen kann.»

Deformation bis ins Private

Als grundanständiger Mensch befremdet Scherrer, dass «die Respektlosigkeit überall zunimmt». Und als Wertkonservativer beklagt er den Verlust von Verbindlichkeiten – etwa wenn kirchliche Bräuche vernachlässigt und anstelle von Freiwilligenarbeit «Leistungen eingekauft werden». Umso mehr Wert legt er, gerade aufgrund vieler Erfahrungen im Beruf, auf sein eigenes Familienleben. Dass er pingelig korrekt ist, nervt am meisten seine Familienmitglieder. «Sie halten mir meine Déformation professionnelle vor. Und ich bin froh, dass sie darauf bestehen, privat dies oder das mal anders zu machen», sagt Scherrer mit feiner Ironie. Nicht einmal im Strassenverkehr schert er aus, ein «Kavaliersdelikt» ist ihm nie passiert. Hat er – selber Vater dreier Söhne – wenigstens in der Jugend beiläufig das Gesetz gebrochen, ein paar deftige Streiche gespielt? Scherrer überlegt lange und sagt dann: Nein, eigentlich nicht. Rebellisch nie, aber engagiert gewiss, im Studentenrat Ende der Siebziger, nicht bei den Progressiven, sondern bei den Wertkonservativen.

Hilfsgardist unter drei Päpsten

Es verwundert nicht, dass sein «Abenteuer» als Student ein Sommer in Rom war – 1978 dreieinhalb Monate als Aushilfe bei der Schweizergarde. Eine historisch einmalige Zeit: Es war der Sommer mit drei Päpsten und zwei Beerdigungen – auf den Tod von Paul VI. folgten die 33 Tage von Johannes Paul I. und nach dessen Ableben Johannes Paul II. Auf den Ehrenwachen habe er «gelernt, ruhig zu stehen», sagt Scherrer. «Und ich sah viele Mächtige der Welt von ganz nah, wie Helmut Schmidt oder den argentinischen Diktator Videla.»

Der Dank von Querulanten

Das Ringen um Gerechtigkeit bedeutet für Scherrer auch die Erkenntnis, dass – mit Blick auf die heiss gekochte Kesb-Debatte – manche Bereiche nicht justiziabel sind: «Kinder, Gefühle, Beziehungen kann man nicht richterlich regeln. Nur im Dialog mit den Betroffenen lassen sich Kinderzuteilungen und Besuchsrecht verordnen.» Der Familienrichter weist auf die Kinderzeichnungen an der Wand; aussagekräftige Kritzeleien von Buben und Mädchen, die am Bürotisch malen, während die Eltern von ihm befragt werden. Im Gegensatz zum Kreisgericht, wo die meisten Fälle im Familienrecht mit einem Vergleich endeten, sei in zweiter Instanz der Richterentscheid die Regel.

Seine erfreulichsten Momente? Wenn Leute, die er verurteilt, trotzdem für «die anständige Behandlung» danken und Jahre später seinen Rat suchen. Jemanden, der einen Fehler begangen hat, nicht blosszustellen und «nie von oben herab» zu behandeln, gehört zu seinen Leitsätzen. An einer Fachtagung hat Scherrer über den Umgang mit Querulanten referiert und an das «immer korrekte Verhalten des Richters» appelliert, «auch wenn dies manchmal schwerfällt». Weiter geboten sei Zurückhaltung: «Sich nicht provozieren lassen und nie beleidigt fühlen.»

Es gelte die Verhältnismässigkeit zu wahren, Polizeipräsenz oder Hausverbot nur als Ultima ratio zu fordern. «Typisch Scherrer» der Aufruf zum Verständnis: Richter sollten «sich bewusst sein, dass eine Person zum Querulanten gemacht werden kann, zum Beispiel durch zu formelles Verhalten». Man dürfe sich nicht «hinter Artikeln verschanzen».

Postautofahrer und Wanderer

Man könnte Scherrer für menschenscheu halten, auch weil er Festanlässe aus Diskretionsgründen vermeidet und nie gross Mannschaftssport betrieben hat. Seine Jasskollegen sehen dies anders. Und wer ihn in der Öffentlichkeit trifft – etwa als täglicher Postautopendler –, erlebt ihn als freundlich, offen, zuhörend. Als intensiver Zeitungsleser hat er wenig Zeit für Bücher, sein letzter Lesestoff «Gelassenheit und Lebensfreude: Was wir vom Barock lernen können» erstaunt nicht. Als Naturfreund verbringt er die Ferien am liebsten bergwandernd mit der Familie – und sorgt sich um die Umwelt. Unlängst im Kino hat ihn «Thule Tuvalu», der Dokfilm über den Klimawandel in Grönland und im Südpazifik, sehr bewegt. Eindringlich sei der Film, sagt er, ohne Mahnfinger erzählt.

Da ist er wieder, der Mann des Ausgleichs, ganz nüchtern. «Meine Ausgeglichenheit hat privat auch Nachteile», sinniert Scherrer. «Doch für meinen Beruf ist sie schon nicht schlecht.» Lakonischer kann man diese Aussage nicht machen: typisch Dominik Scherrer. Er will bald wieder einmal rudern, wie in seiner Jugend – auf dem «richtigen See».