Strassen sind keine Stuben, sondern Verkehrsräume. Doch das Parkieren von Autos in innerstädtischen Räumen ist eine überholte Kultur aus Zeiten der «autogerechten Stadt». Ein Plädoyer für neue und flexible Ansätze, auch in St.Gallen und Rapperswil.
Peter Röllin
Raumkonflikte haben auch integrative Seiten, wie das aktuelle Verfahren im St.Galler Planungsprozess Bahnhof Nord beweist. Dagegen ist der politische Umgang mit grösseren Strassen- und Tunnelprojekten weit komplizierter. Dies nicht nur, weil der «Kanton» ein abstrakteres, bürgerferneres Konstrukt ist. Mobilität ist ein weltweiter Kulturprozess, nur beschränkt ortsgebunden, in St.Gallen und Rapperswil etwa über die speziellen Topographien.
Optimierungen des öffentlichen und privaten Verkehrs in historischen Zentren reichen weit ins 19. Jahrhundert zurück und haben mit Torabbrüchen, mit dem Anlegen von Boulevards, Diagonalen und Rond-Points, Tram-, Tief- und Hochbahnen neue Stadtformen entwickelt. Im beginnenden 20. Jahrhundert besangen Kunstschaffende wie die Futuristen gar Strassen- und Kriegslärm. In den 1930er-Jahren – die Zahlen der Automobile schnellten bereits markant nach oben – forderten Programme der Ciam (Congrès International d’Architecture Moderne) radikale Neuorientierungen in Richtung der mobilen Stadt. Le Corbusier prägte die Vision durch getrenntes Wohnen, Arbeiten und Erholung.
Im kriegsgeschädigten Deutschland war der räumlich offenere Wiederaufbau der Städte von grosszügigen Durch- und Umfahrungsstrassen Programm und erreichte wenig später auch kriegsverschonte Städte der Schweiz. Für das «Wohnen auf dem Lande» (stadtnah wie am Sonnenberg in Abtwil) war freie und schnelle Zufahrt zur Innenstadt problemlos. Parallel dazu entstanden nach Vorbildern in England und den USA auch in der Schweiz erste Einkaufszentren ausserhalb der Städte (Spreitenbach 1972, Seedamm-Center Pfäffikon 1974, Säntispark Abtwil 1986 u.a.). Das Zürcher Schnellstrassen-Ypsilon wurde zur Metapher brachialer Stadtüberwindung. Das war keine Neuordnung von Stadt in der Vision von Le Corbusier, sondern fragmentarischer Durchhau in bestehende Stadtstrukturen.
Dem Tangentenwahn in St.Gallen fiel die Nordseite der Platztor-Vorstadt (St.-Jakob-Strasse) zum Opfer; sie blieb zentrumsnahe städtische Brache bis heute und ist nun willkommener Perimeter zur Erweiterung der Universität St.Gallen durch den Kanton. Vielleicht gelingt dem öffentlichen Projekt am hässlichen Verkehrsknoten Platztor der freie Übergang zur Altstadt. Die geplante Südtangente dagegen fiel dem Engagement der Theater- und Bürgerinitiative Pico-o-Pello 1975 zum Opfer. Unterschiedliche Generationen haben damals gelernt, sich gegen das Zersägen von Stadt zusammenzuraufen.
Agglomerationen werden auch in der Schweiz durch Mehrung von Bevölkerung und Arbeitsplätzen weiterwachsen. Städte und zunehmend auch Dörfer in der Peripherie der Zentren sind zu unübersichtlichen Lebensräumen zusammengewachsen. Da die Stadtregionen die immer komplexeren und kostenintensiveren Aufgaben der mobilen Infrastruktur nicht selbst leisten können, hat der Bund im Vierjahreszyklus Agglomerationsprogramme geschaffen. Mit dem 3. Agglomerationsprogramm steht aktuell ein Infrastrukturfonds zur Finanzierung von Strassenprojekten, Tram- und S-Bahnen, Fuss- und Velowegen in Aussicht. Antworten auf Fragen, wie einzelne Regionen es verstehen, Verkehrs- und Siedlungsentwicklung nachhaltig zu gestalten, werden für die Vergabe von Geldern entscheidend sein. Die gewichtige Bewerbung der Agglomeration Obersee-Gemeinden rund um Rapperswil-Jona ging eben per Velokurier auf den Weg nach Bern. Ein gutes Vorzeichen, das Erwartungen für neue Lösungen weckt.
Der Spannungsbereich zwischen der durch den Mobilitätswandel für den Detailhandel negativ entstandenen Situation in Zentren und den Forderungen nach autofreien Innenstädten wird andauern. Dazu rückt der wachsende Online-Handel neue Wolken über räumlich gebundene Märkte. Mobilität – und dazu zählt auch der gesamte digitale Austausch – hat nicht erst heute planetarische Dimensionen erreicht. Peter Sloterdijk hat die Entwicklung der Mobilität in seinem frühen Werk «Eurotaoismus – Zur Kritik der politischen Kinetik» (1989) als die falsche permanente Revolution bezeichnet. Mobilität hilft nicht nur Distanzen zu überspringen. Sie schafft auch klein- und grossräumige Distanzierung in Qualitätsfragen von Mensch und Umwelt. Dies betrifft Gemeinwesen, aber auch unsere persönlichen Identitäten mit Quartier und Stadt, unser Wohlsein am Ort. Auch dann, wenn nicht alle Übereinstimmung in gleicher Stärke suchen und teilen.
Die Dialektik von Intimität und Öffentlichkeit führt öfters auch zu Missverständnissen. Der in Zürich lebende Psychoanalytiker und Schriftsteller Peter Schneider sagt mit Recht, dass die Strasse kein Wohnzimmer sei und dass auf der Strasse andere Gesetze gelten als in privaten und halbprivaten Hofräumen. Die Differenzen zwischen Wohnungen und öffentlichen Räumen dürften nicht zur «Verwohnzimmerung» führen. Das müsste, meine ich, auch für Ladenbesitzer gelten, die allerlei Hausrat in die Gassen gewisser Altstadtkerne stellen. Peter Schneider zitiert den Satiriker Karl Kraus (1874–1936): «Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Strassenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.»
Umgekehrt macht uns heute diese Ästhetik der Distanzierung und Egozentrik Probleme auf der Ebene des Zusammenlebens. Schwierig zu beantworten ist die Frage, ob Städte und Agglomerationen eine richtungsgebende Corporate Identity auch in Verkehrsfragen zu formulieren im Stande sind. Fakt ist: Die wichtigsten Städte der Schweiz und auch im Ausland sind «linker» und «grüner» geworden. Folgen für ein neues Verständnis im Umgang mit Verkehr sind schon eingetreten. Interessant könnte in dieser Hinsicht das neu lancierte Städte-Expo-Projekt werden, nachdem die politische Rechte der Ostschweiz dem ersten Schritt für eine eigene Expo-Dynamik eine Abfuhr erteilt hat. Gute Visionen kommen sehr oft von aussen.
Parkieren definiert sich als Abstellen und Alleinlassen des Fahrzeugs. Der Akt ist gut, nur fragt sich, wo richtig zu parkieren ist. Umsteigen auf öffentliche Verkehrsformen und Langsamverkehr (Velo, Fuss) sind weiterhin am Zunehmen. Aber auch Pendeln zur Arbeit in verschiedenen Formen ist selbstverständlich geworden. Aus einer Masterarbeit 2015 von Veronika Schürmann am Raumplanungsinstitut der ETH Zürich geht die Erkenntnis hervor, dass kleinere, eigenständigere Regionen tendenziell ein effizienteres Pendelmuster aufweisen als grössere Städte. Für Aufmerksamkeit in der Region St.Gallen dürfte die Aussage sorgen: «In allen Regionen (ausser St.Gallen) ist es zeitlich effizienter, mit dem Auto zu pendeln.» Da schiebe ich die Frage nach: Profitiert St.Gallen als enge Talstadt aus der Ortswahl des Eremiten? Warum fängt sie die noch privaten Pendlerautos nicht gleich in West und Ost mit Pförtner- oder Road-Pricing-Systemen ab?
Mit grosszügigen Visionen in Rapperswil-Jona bin ich etwas vorsichtiger, da Kantone vorerst über Grenzen springen müssen. Doch das Angebot des Bundes, sich am zeitlich beschränkten Erproben des Road-Pricing-Modells über den geplagten Seedamm Rapperswil-Pfäffikon zu beteiligen, wäre in der verfahrenen Mobilzone Rapperswil-Jona eine äusserst gewinnende Erfahrung, um grossräumigen Lösungsversuchen endlich näher zu kommen. Ob ein klein gedachter «Stadttunnel» für eine andere Zukunft noch das Richtige ist, steht zur Diskussion. Die Situation dieser grössten Schweizer Stadt ohne Parlament ist jedoch ein politisch brisantes, hausgemachtes Risiko, um nachhaltig und kritisch in die Zukunft zu fahren.
Um 1900 waren collagierte Jux-Postkarten mit allerlei Luftfahrzeugen zu Neujahr beliebt: Wäre für die Stadt St.Gallen eine freche superschnelle Hochbahn Untere Waid–Neudorf–St. Fiden–St.Gallen-Gossau gar ein Zukunftstransfer? Luftschlösser haben keine Räder und verlangen auch bei Verkehrsamt und Stadtbildkommission keine Prüfung. Prosit Neujahr! Hauptsache, Verkehrsplanung wird flexibler nach dem Motto: Vor-Tritt und Fort-Schritt für alle und flexiblen Umgang mit bereits bestehenden Verkehrsräumen.