Es ist ein Leuchtturm im Bermudadreieck und gilt als ältestes Restaurant der Stadt St. Gallen: Das «Alt St. Gallen» ist legendär. Letztes Jahr hat es ein Rheintaler zur Adresse für Cocktail-Fans gemacht.
Beda Hanimann
Sie ist das berühmteste und skurrilste Dekorationsobjekt in der St. Galler Beizenszene. Der Guillotine im «Alt St. Gallen» hat Niklaus Meienberg in seinen «Reportagen aus der Schweiz» ein kleines Denkmal gesetzt. Im Szeneroman «Stern» von Andreas Niedermann ist die Beiz oben im Knick der Augustinergasse gar nach ihr benannt. Und Martin Durot, der aktuelle Wirt, hat sie auf der Rückseite seiner Cocktail-Karte abgebildet.
Die Guillotine steht heute hinter Glas, von drinnen wie von draussen zu besichtigen, anders als zu Meienbergs Zeiten gratis. Wie sie in das «Alt St. Gallen» kam, weiss niemand mehr so richtig. Sie stamme aus der Zeit um 1800, als das Gebäude unter Napoleon als Präfektur diente, heisst es. Es handle sich um eine Wanderguillotine aus Süddeutschland, hört man. Und man kann lesen, dass das «Alt St. Gallen» das älteste Restaurant der Stadt sei, seit 1537 betrieben. So schreibt es auch Durot auf der Karte, aber er schmunzelt: «Hier drin ist wohl vieles älter geredet worden, als es ist.»
Die Beiz, die wohl so häufig mit dem Zusatz «legendär» bedacht wird wie keine andere in der Stadt, hat zuletzt unruhige Zeiten durchgemacht. Nachdem Rinaldo («Pitsch») und Erika Piccinin das Lokal Ende 2000 nach 19 Jahren verlassen hatten, gab es den einen oder andern Besitzerwechsel, es gab bange Fragen, ob für die Traditionsbeiz mit der Guillotine das letzte Stündchen geschlagen habe. 2005 kaufte der stadtbekannte Immobilien-Kaufmann Fredi Brändle das Haus. Nicht als Spekulationsobjekt oder Kapitalanlage, wie er damals sagte. Sondern weil es doch nicht sein dürfe, dass das angeblich älteste Restaurant der Stadt einfach so sang- und klanglos verschwinde.
Seit März 2016 ist Martin Durot der Beizer im «Alt St. Gallen». Üppiger Bart, immer ein Beret auf dem Kopf und einen Anflug von Schalk im Gesicht: Der Mann passt hieher, in diese niederen Räume mit den Schnitzereien an der Decke und den Fenstern mit Glasmalereien.
Er hat einiges geändert am Lokal, das er als «etwas dreckige und verrauchte Spelunke» angetroffen hat. Die Tische und Bänke kamen raus, es wurde neu gestrichen, es gab eine neue Beleuchtung und einen längeren Tresen. «Ich glaube nicht, dass wir den Raum verschandelt haben. Wir haben den Charme erhalten und mit Neuem aufgewertet», sagt er. Schalk im Gesicht. Ein Bild von einem Beizer.
Durot ist 1981 in Diepoldsau geboren, da lebt er noch heute. Es gebe ein Foto von ihm als 14- oder 15-Jährigem, am heimischen Küchentisch betreibt er eine Cocktail-Bar, «mit Sirup und Säften» natürlich, wie er sagt. Gar so direkt führte sein Weg dann jedoch nicht ins Gastgewerbe. Er habe sieben oder acht Jobs probiert, erzählt er. Bei der Migros hat er gearbeitet, als Staplerfahrer, im Gartenbau, in einer Mühle, als Rasenmähermech im väterlichen Betrieb, gelernt hat er Bäcker-Konditor. Im Nebenjob machte er dann in der Widnauer «Habsburg» den «Gläserwäscher und Fläschliauffüller», später wurde die Sache zum Volljob. In der «Habsburg», sagt Durot im Rückblick, habe er realisiert: «Das ist die Art von Arbeit, die mir Spass macht.» Es folgten Tätigkeiten als Barkeeper in Arosa, Einsätze im «News» und im «Baracca» in St. Gallen. Dann ein Telefonanruf, ob er Interesse habe am «Alt St. Gallen. Durot schaute sich die Sache an. Und er hatte bald konkrete Vorstellungen. «Für mich war klar: Wenn die Beiz bleiben soll, was sie war, dann bin ich der Falsche. Wenn es aber möglich ist, eine anständige Cocktail-Bar einzurichten, dann übernehme ich gerne.» Am 4. März 2016 stand er zum ersten Mal als Bartender am Tresen.
Die Cocktails sind Martin Durots Herzensangelegenheit geworden, assistiert wird er von Christian Flammer. «Wir wollen zeigen, dass es nicht nur Mojito, Caipirinha oder Piña Colada gibt. Und dass Barkultur auch anderes ist als die Hotelbar des Hyatt in London», sagt Durot. Er arbeite mit vielen Eigenkreationen, mazeriere und aromatisiere selber Spirituosen und Säfte. «Da gibt es auch mal schräge Sachen wie einen Speck-Ahorn- Sirup.» Barkultur ist für Durot, auf die Gäste einzugehen. «Bei uns kann man sagen: Mach mir einen Drink, in dem das und das und jenes nicht drin ist. Zu 99 Prozent finden wir dann eine Lösung.» Schalk im Gesicht, munterer Blick unter dem Beret hervor.
Auf die Guillotine wird Durot immer wieder angesprochen, aber viele Gäste können sich an das alte «Alt St. Gallen» nicht mehr erinnern und kommen wegen der Cocktails. Das Publikum habe recht rasch gewechselt, was Durot durchaus recht ist. «Wir sind eine professionell geführte Bar mit einem Anspruch, der höher ist als ‹Gib mir noch zwei Kübel›», findet er. Aber eine Konstante macht er doch aus: «Getrunken hat man hier drin schon immer gern.»