STALKING: «Sein Lebensinhalt ist es, mich zu suchen»

In der Schweiz ist es nicht verboten, jemanden auf der Strasse zu verfolgen oder mit Anrufen zu belästigen. Eine Thurgauerin will mit ihrer Geschichte die Politiker aufrütteln.

Markus Schär
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«Er hat Beute gemacht, und er lässt mich nicht mehr los»: Seit vier Jahren wird Michelle Maurer von einem Stalker verfolgt. (Bild: Sinan Saglam / EyeEm (EyeEm))

«Er hat Beute gemacht, und er lässt mich nicht mehr los»: Seit vier Jahren wird Michelle Maurer von einem Stalker verfolgt. (Bild: Sinan Saglam / EyeEm (EyeEm))

«Ich weiss nicht mehr, wie es ist, ein normales freies Leben zu führen», sagt Michelle Maurer*. Bevor sie aus dem Haus geht, verwandelt sie sich in eine andere Frau. Sie verändert ihr Aussehen so, dass auch ihre Nachbarn sie nicht erkennen. Und sie zwingt sich zu einem anderen Gang, stellt ihre Gewohnheiten um, weicht Bekannten aus und meidet Orte, wo sie eine Begegnung fürchtet: «Ich bin zwei verschiedene Personen.»

«Du hast keine Chance», droht ihr Verfolger, «die Schweiz ist klein, und ich finde dich überall.» Er hängt an ihrem Arbeitsort stundenlang am Bahnhof rum. Er folgt ihr ins Kino, an Kurse oder in den Zug. Er setzt Verwandten und Bekannten zu. Und er ruft rund um die Uhr an; 385 Telefonate zählte Michelle Maurer allein, seit ihm dies das Bezirksgericht vor eineinhalb Jahren verbot. Eine Polizistin warf ihr vor, dass sie die Nummer – die auch jene ihres Ehemanns ist – nicht wechselt. «Das wäre ein falsches Signal», wehrt sie sich. «Wenn einer stets ein Fahrverbot missachtet, wird ja auch nicht das Verbotsschild entfernt.»

Ihr Verfolger mache klar, dass er sich an keine Grenze halte: «Wenn er nicht mehr anrufen kann, kommt er vorbei – da ist der Telefonterror das kleinere Übel.» Schon viermal stand er nachts vor ihrem Haus in einem Dorf im Mittelthurgau, schwer betrunken, brüllte Beleidigungen, machte auf dem Vorplatz Feuer, spuckte den Ehemann an, hetzte die Nachbarn auf. Beim vierten Vorfall brachte die Polizei den Verfolger in Handschellen in die Notfallpsychiatrie; die Klinik schickte ihn aber nach drei Wochen wieder heim. «Sein Lebensinhalt ist es, mich zu suchen», weiss Michelle Maurer. Und: Was ihr Verfolger macht – Stalking –, ist in der Schweiz nicht strafbar.

Die üble Geschichte fängt im Frühling 2013 an. Michelle Maurer, nach Erfahrungen in ihrer Familie mit dem Islam vertraut und aufgrund ihrer Arbeit im Gesundheitswesen für Begegnungen aufgeschlossen, sieht bei der Heimfahrt vom Einkaufen in Winterthur am Bahnhof einen Mann, der ihr mit seinem nervösen Rauchen schon einmal aufgefallen ist. Sie spricht ihn im Zug an, er stellt sich als politischer Flüchtling aus Kurdistan vor, der in der Türkei als angeblicher PKK-Helfer unter Folter litt. Sie weist ihn darauf hin, dass in Frauenfeld, wo er wohnt, demnächst der Dokumentarfilm «Der Imker» über einen kurdischen Asylanten in der Schweiz laufe. Er zeigt ihr auf dem Handy Szenen aus einem Film, in dem er mitspielte: Männer, die sich den Strick um den Hals legen. Michelle Maurer, mit kriegsversehrten Verwandten, fühlt sich von seiner Geschichte angesprochen.

«Mischung aus Angst und Neugierde»

Als der Film läuft, will sie den Kurden zum Kino führen. Sie treffen sich am Bahnhof, er zeigt aber kein Interesse am Kinobesuch. «Was mache ich jetzt mit ihm?», fragt sich Michelle Maurer. Sie will nicht einfach gehen, deshalb folgt sie ihm in den Park; dort setzen sie sich zum Reden auf den Rasen. Und sie spürt gleich: «Ich sitze in der Falle. Er hat Beute gemacht, und er lässt mich nicht mehr los.» Schliesslich schaltet sie den Verstand aus und willigt «in einer Mischung aus Angst und Neugierde» ein, mit ihm in seine Wohnung zu gehen. Dort fällt er über sie her.

Seine Grobheit erschüttert sie; aber sie verspürt auch Mitleid, weil er offenbar im Liebesleben nichts anderes kennt. Schockiert erzählt sie ihrem Ehemann von der Begegnung. «Mit der Gabe, in wichtigen Momenten das Falsche zu fühlen», wie sie sagt, lässt er ihr die Freiheit. So macht es sich Michelle Maurer zur Aufgabe, dem zehn Jahre jüngeren Kurden die Schweizer Verhältnisse zu erklären, also «alles daran zu setzen, dass dieser Mann hier ein legales, würdiges Leben führen kann – mit Betonung auf ‹legal›.» Sie glaubt, das wolle er auch; bald merkt sie, dass sie sich Illusionen macht, aber sie kommt nicht mehr aus der Beziehung raus.

Einige Monate später zieht der Kurde seinen 14-jährigen Sohn nach, den er kaum kennt, weil das Kind nach der Trennung der Eltern bei einer Tante aufgewachsen ist. Michelle Maurer hegt schwere Bedenken dagegen, dass die Behörden den verschüchterten Jugendlichen mit der Schulbildung eines Drittklässlers ohne jegliche Deutschkenntnisse seinem von Alkohol und Nikotin abhängigen, paranoiden Vater anvertrauen wollen. Sie merkt, dass sie am Stockholm-Syndrom leidet, der Sympathie von Geiseln für ihre Geiselnehmer: «Man entkommt einer Situation nicht mehr; also versucht man sie so zu verbessern, dass sie sich einigermassen ertragen lässt.» Sie kocht mit dem Vater, macht auf dem Balkon einen Garten, lehrt den Jugendlichen Deutsch. Dann verprügelt der Vater seinen Sohn brutal. Sie schlägt Alarm und packt in einem Gespräch mit den Asylantenbetreuern aus; das kann der Kurde von einer Frau nicht fassen. Danach brechen sie die Beziehung ab.

Aber der Mann lässt sie nicht los. Er ruft immer wieder an, um sie zu kontrollieren, bis zu 60-mal am Tag. Er dringt an ihrem Arbeitsort ein, um sie zu verleumden. Er hält seinen Sohn dazu an, sie zu überwachen. Er stellt ihrem eigenen Sohn nach und schlägt ihm auf den Kopf. Und er hetzt seine Landsleute gegen die «Schlampe» auf.

Michelle Maurer lässt sich nochmals auf die Aufgabe ein, als ihr Peiniger aus der Frauenfelder Wohnung fliegt: Sie bringt ihn auf einem Campingplatz am Bodensee unter. Im November 2015, nachdem er sie geschlagen und ihr ins Gesicht gespuckt hat, wendet sie sich aber an die Opferhilfe. Im Frühling 2016 spricht das Bezirksgericht in einer superprovisorischen Verfügung ein Rayon- und Kontaktverbot aus; im April 2017 hält es in der Verhandlung daran fest. Wenn er diese Regel breche, warnt der Gerichtspräsident den Beschuldigten, dann lande er im Gefängnis.

Der Täter hat alle Zeit der Welt

Der Kurde denkt nicht daran, sich an die Regeln zu halten. Und sein Opfer sieht kein Mittel, ihn zu stoppen. Allein für die Gerichtsverfahren mussten Michelle Maurer und ihr Mann über 20'000 Franken an Anwaltskosten aufbringen; ihrem Sohn fehlt das Geld, um ein Kontaktverbot zu beantragen. Der Täter braucht derweil schon den dritten Pflichtverteidiger: Er hat alle Zeit der Welt.

Deshalb möchte Michelle Maurer mit ihrer Geschichte die Politiker aufrütteln, eine Strafnorm gegen Stalking einzuführen und vor allem auch gegen Leute vorzugehen, die sich nicht an die Regeln halten. «Wenn wir es zulassen, dass Leute hier in einer Parallelkultur leben, dann müssen wir wenigstens Mauern hochziehen, um uns zu schützen», meint sie. «Wenn wir es nicht schaffen, Stopp zu sagen, dann haben wir verloren.»
* Name geändert

Stalking in der Grauzone

Von Doris Fiala (FDP) bis Yvonne Feri (SP) fordern Parlamentarierinnen seit Jahren, schärfer gegen Stalking vorzugehen. Eine Strafnorm, wie es sie in anderen Ländern gibt, lehnten der Bundesrat und das Parlament aber bisher ab; sie setzen auf Verbesserungen im Zivilrecht. Die Täter können schon bisher wegen ihrer Delikte verfolgt werden, wie Drohung, Nötigung, Hausfriedensbruch, Ehrverletzung oder auch Missbrauch einer Fernmeldeanlage. Dies fordert von den Opfern allerdings viel Aufwand und Unkosten, wie der Fall von Michelle Maurer zeigt. (M. S.)