Kolumne
Schweizer enden jenseits von Schweden

Das Paradies hätte es werden sollen, die erstmalige Qualifikation für die Viertelfinals seit 1954. Doch das wäre für die Schweizer zu fürstlicher Lohn gewesen. Der entscheidende Faktor für das Scheitern war die ungenügende Defensivorganisation.

Fredi Kurth
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Fredi Kurth. (Bild: Urs Bucher)

Fredi Kurth. (Bild: Urs Bucher)

Gegen Schweden wirkte sich das Durcheinander in der Abwehr besonders unvorteilhaft aus. Aber es war in allen Spielen zu beobachten. Und wäre nicht Torhüter Yann Sommer als einziger Schweizer in allen Spielen zur Höchstform geflogen, hätte es nicht einmal für die Achtelfinals gereicht. Schon gegen die Brasilianer herrschte im Schweizer Strafraum häufig Alarmstufe 1, nicht zuletzt gegen Ende der Partie. Gegen Serbien war dies am Anfang der Fall, bevor sich die Mannschaft schliesslich zur besten Leistung emporschwang. Gegen Costa Rica gerieten die Schweizer das einzige Mal nicht in Rückstand. Aber nun zeigte sich defensives Ungenügen, indem zweimal ein Vorsprung nicht gehalten werden konnte.

So gemächlich nichts zu gewinnen

Die daraus entstandene Unsicherheit zeigte sich gegen Schweden von Anfang an. Mit Ballstafetten von hinten heraus sollte wieder Vertrauen geschaffen werden. Aber mit der Gemächlichkeit, wie dies geschah, ist heutzutage im Fussball nichts mehr zu erreichen, geschweige denn die Aufnahme ins Paradies. Dann fehlt die mentale und körperliche Spannung, dann fehlt der Rhythmus, mit dem aus der zügigen Aktion die Kombinationen gelingen. Dann missraten auch die einfachen Zuspiele.

Dzemaili – immer wieder er

Die Schweden schienen am meisten erstaunt, dass sie plötzlich unbehelligt zum Abschluss kamen, und vergaben die Chancen zum Teil kläglich oder scheiterten an Sommer. Ja, die Schweizer hätten im Spiel nach vorne mehr Talent gehabt als der Gegner. Aber sie versuchten es gar nicht zu nutzen. Blerim Dzemaili vergab in der ersten Halbzeit die beste Chance. „Wieder Dzemaili“ werden viele sagen. Aber gegen Costa Rica hatte er einmal getroffen, und er war der einzige Schweizer, der sich ziemlich regelmässig in aussichtsreiche Schussposition brachte.

Wer stösst die Schweden weg?

Ja, die Schweden. Ich gehörte zur seltenen Spezies hierzulande, die sich freute, als Toni Kroos für Deutschland das Tor in letzter Minute gelang. Die Schweden hatten mit ihrem ultradefensiven, unansehnlichen Fussball Holland und Italien schon vor der Endrunde aus dem Rennen geworfen. Das sollte ihnen auf so billige Art nicht auch noch gegen den Weltmeister gelingen. Doch die Nordländer kamen durch die Hintertür wieder herein und bedrohen nun die weiteren Favoriten. Sie haben einzig gegen Deutschland Gegentore zugelassen. Auch England wird sich schwer tun. Die Schweizer verpassten das Paradies und landeten resultat- und leistungsmässig sogar jenseits von Schweden.

Das erreicht, was zu erwarten war

Man könnte einwenden, Vladimir Petkovic habe zu wenig die nachdrängenden Bundesligaprofis forciert oder zu wenig auf die aktuelle Form einzelner Spieler geachtet. Einzig Manuel Akanji erhielt vom Team der Zukunft einen festen Platz. Aber seine Formkurve zeigte im Laufe des Turniers nach unten. Und als gegen Costa Rica Youngster Denis Zakaria als Joker auflief, holte er sogleich eine gelbe Karte ab und verschuldete wenig später den indiskutablen Elfmeter, der zum 2:2 führte. Neben der Abwehr liess auch das Gesamtpaket zu wünschen übrig. Da reichte die Klasse nicht, um Grosses zu erreichen. Schliesslich gelang das, was von dieser Mannschaft zu erwarten war, auch wenn man sich das Umfeld der Spieler anschaut, die Vereine, in denen sie spielen – da gehören Stoke, Deportivo la Coruna oder Dinamo Zagreb nicht zu den besten Adressen. Und manche drücken in der Meisterschaft die Ersatzbank. Enttäuschend war, dass Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri nur gegen Serbien ihren Leistungszenit erreichten.

Mannschaft braucht frischen Wind

Aber die beiden sind zusammen mit Ricardo Rodriguez die Spieler, welche die Mannschaft in die Zukunft führen können. Das müsste mit neuem Coach geschehen, einem Mann, der frischen Wind in die zuletzt lethargisch wirkenden Reihen bringt und diese in wesentlichen Teilen erneuert. Manuel Akanjii, Nico Elvedi, Remo Freuler, Denis Zakaria, Breel Embolo und Albian Ajeti sind Akteure, die sich am bewährten Trio aufrichten und entfalten können.

Aufgefallen

 -         Noch fällt es schwer abzusehen, wie diese WM einzuordnen ist. Wir haben unglaublich attraktive Spiele gesehen, aber auch Langweiler, bei denen einem die Füsse eingeschlafen sind. Nur schon die Achtelfinals: Was waren das für Spiele am Samstag und Montag, aber was für zwei klägliche Vorstellungen am Sonntag. Eines hat sich deutlich herausgeschält: Uns reissen temporeiche Spiele aus dem Sessel, auch wenn ab und zu die Passgenauigkeit darunter leidet. Nicht mehr auszuhalten ist das verschleppte Kurzpassspiel der Spanier, Tiki-Taka in Zeitlupe. Weil die Russen aber nicht viel anderes taten, als den eigenen Strafraum abzusichern, entwickelte sich ein Spiel, das zu den bisher schlechtesten dieser Endrunde gehört. Kroatien gegen Dänemark war nur unwesentlich aufregender. Die Dänen erstickten die zuletzt so starken Slawen mit konsequentem Pressing spätestens ab der Mittellinie. Das blieb mir neben einem Jogger, der sich jeweils von der einen zur andern Seitenlinie bewegte, um weite Outeinwürfe zu zelebrieren, als einzig Bemerkenswertes von dieser Mannschaft in Erinnerung. Hingegen glänzten die Brasilianer mit Kombinationen und Sololäufen gegen ebenfalls quicklebendige Mexikaner wie zu besten Zeiten. Und was zunächst schläfrige Belgier und defensive Japaner nach der Pause auf den Rasen zauberten, war begeisternd. Beide wollten den Sieg noch vor der Verlängerung.

-         Der Videobeweis ist mehrheitlich akzeptiert. Er macht nicht nur den Fussball gerechter, sondern auch die Schiedsrichter besser. Kaum je zuvor sind die Spielleiter so selbstbewusst und mit klarem Urteil aufgetreten wie an diesem Turnier. Sie wissen, wenn kein Einwand von oben erfolgt, zumindest eine fachliche Zweitmeinung hinter sich. Andernfalls gehen sie hin zum Bildschirm und lassen sich je nachdem gerne eines Besseren belehren. Sie pfeifen somit genau das, was sie sehen, und widerstehen der Versuchung, in einer aufgeheizten Atmosphäre einen populistischen Entscheid zu fällen. Wie oft hätten wir uns schon über Fehlentscheide aufgeregt, wenn sich nicht der Assistent aus dem Videoraum gemeldet hätte. Aber allzu oft meldet er sich nicht. Und das ist das Entscheidende. So lässt sich auch erklären, weshalb in der Bundesliga, wo die Video-Assistent-Review VAR in der Saison 2016/17 ein Jahr lang trocken geprobt wurde, nach der Einführung das Chaos herrschte. In der vergangenen Winterpause riet das Fachmagazin „Kicker“ allen Ernstes, den Videobeweis sofort wieder abzuschaffen. Die Deutschen scheiterten an ihrer sprichwörtlichen Gründlichkeit. Sie wollten den Fehlentscheid auch in Zweifelsfällen abschaffen. Dass sich der Videoassistent in vielen, wenn auch nicht in allen, Situationen als nützlich erweist, ist bisher die Überraschung des Turniers in Russland. (th)