SCHNEESCHMELZE: Nach Schneechaos in den Bergen - droht der Ostschweiz jetzt die Flut?

Die Lage in den Bergen erinnert an den Katastrophenwinter 1999. Er bescherte der Ostschweiz ein Jahrhunderthochwasser. Eine Hydrologin erklärt, ob es auch diesen Frühling kritisch wird.

Michael Genova
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Bei einem Lawinenunglück in der Walliser Gemeinde Evolène starben im Winter 1999 zwölf Menschen. (Bild: Fabrice Coffrini/Keystone (Evolène, 22. Februar 1999))

Bei einem Lawinenunglück in der Walliser Gemeinde Evolène starben im Winter 1999 zwölf Menschen. (Bild: Fabrice Coffrini/Keystone (Evolène, 22. Februar 1999))

Michael Genova

michael.genova@ostschweiz-am-sonntag.ch

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Die Schweizer Bergdörfer versinken im Schnee. Messstationen im Wallis und Kanton Graubünden meldeten diese Woche neue Schneehöhenrekorde. Und das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) rief wegen der Lawinen­gefahr zeitweise die höchste Gefahrenstufe 5 aus. Dies weckt Erinnerungen an den Lawinenwinter 1999.

Es ist der 22. Februar 1999. Rettungskräfte versuchen um 2 Uhr morgens die Schneewand in Evolène zu durchbrechen. Eine Lawine hat den Skiort am Tag zuvor erschüttert und zahlreiche Chalets zerstört. Zu diesem Zeitpunkt sind zwei Menschen verstorben, zehn werden noch vermisst. (Bild: Keystone/Fabrice Coffrini)
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Eine Lawine wird am 25. Februar 1999, in Anzere, Kanton Wallis, gesprengt. (Bild: Keystone/Alessandro della Valle)
Die Lawine hat am 24. Februar 1999 schon acht Menschenleben gefordert. Zwei Menschen werden immer noch vermisst. (Bild: Keystone/Fabrice Coffrini)
Eine mächtige Staub-Lawine donnert am 22. Februar 1999 neben dem Skigebiet Evolène, in den Schweizer Alpen, ins Tal runter. Einen Tag, nachdem eine Lawine in Evolène 12 Todesopfer gefordert hatte. Der heftigen Schneefälle wegen, haben sich bereits zahlreiche Lawinen spontan ausgelöst und töteten alleine im Monat Februar 19 Menschen. (Bild: Keystone/Fabrice Coffrin)
Ein Black-Hawk-Helikopter der U.S. Army startet im österreichischen Mils. Die Maschine bringt am 25. Februar 1999 Menschen in Sicherheit. (Bild: Keystone/Rudi Blaha)
Land unter in Rorschach: Die Hafenstadt am Bodensee ist nach heftigen Niederschlägen überschwemmt. Das Hochwasser 1999 geht in die Geschichte der Region am Bodensee ein. (Bild: Keystone)
Das Rorschacher Seeufer ist überflutet. Der Bodenseepegel erreicht sogar die Badhütte (links im Bild). (Bild: Keystone)
1999 heisst es "Land unter" auch am Hafenbahnhof in Rorschach. (Bild: Keystone)
Zahlreiche Schaulustige sind nach Rorschach gekommen, um das Hochwasser zu sehen. Die Strasse können sie nur über einer Holzbrücke überqueren. (Bild: Keystone)
Per Boot durch Rorschach: Das Hochwasser 1999 macht's möglich. (Bild: Keystone)
22. Mai 1999: Eine aussergewöhliche Ruderpartie beschert der nach den ergiebigen Niederschlaegen der vergangenen 24 Stunden über die Ufer getretene Bodensee diesen drei jungen Einwohnern im überfluteten Stadtkern von Steckborn. (Bild: Keystone/Yuval)
Ein Jugendlicher lässt am Sonntag, 6. Juni 1999 auf einem überfluteten Parkplatz in Ermatingen (TG) sein Modellboot im Wasser des über die Ufer getretenen Bodensees kreisen. (Bild: Keystone/Christoph Ruckstuh)

Es ist der 22. Februar 1999. Rettungskräfte versuchen um 2 Uhr morgens die Schneewand in Evolène zu durchbrechen. Eine Lawine hat den Skiort am Tag zuvor erschüttert und zahlreiche Chalets zerstört. Zu diesem Zeitpunkt sind zwei Menschen verstorben, zehn werden noch vermisst. (Bild: Keystone/Fabrice Coffrini)

Damals gingen in der Schweiz rund 1200 Lawinen nieder, die Schäden beliefen sich auf über 600 Millionen Franken. Das schwerste Lawinenunglück ereignete sich im Walliser Dorf Evolène und forderte zwölf Menschenleben. Im Frühjahr 1999 folgte dann die zweite Katastrophe: Schmelzwasser und schwere Regenfälle bescherten der Ostschweiz über Auffahrt und Pfingsten ein Jahrhunderthochwasser.

Regen und Schneeschmelze bilden gefährlichen Cocktail

Der Bodensee trat über die Ufer und flutete Plätze, Strassen und Keller. Weite Teile des Schweizer Seeufers standen unter Wasser, die Schifffahrt wurde zeitweise eingestellt. Unvergessen sind etwa die Bilder aus Rorschach, das sich in eine Lagunenstadt verwandelte. Einwohner und Schaulustige erkundeten auf Notstegen die Strassen, im Hafenbahnhof pflügten sich die Züge einen Weg durch die Wassermassen.

Droht nach dem grossen Schnee auch in diesem Jahr wieder eine Flut? Dafür müssten mehrere Faktoren zusammenkommen. "Die Schneeschmelze alleine verursacht noch kein grosses Hochwasser", sagt Hydrologin Edith Oosenbrug vom Bundesamt für Umwelt. Setze jedoch zusätzlich zu einem Wärmeeinbruch im Frühling intensiver Regen ein, könne es zu Problemen kommen. Man werde die Situation deshalb weiter beobachten.

Die aktuelle Schneesituation unterscheidet sich von derjenigen im Jahr 1999. Damals lag auch in tieferen Lagen viel Schnee. Dazu kommt: Die grossen Schneemengen fielen damals erst im Februar. Viel hängt deshalb davon ab, wie sich das Wetter in den kommenden Wochen entwickeln wird. Während eines warmen Frühlings mit wenig Regen werde der Schnee allmählich abschmelzen, ohne ein Hochwasser zu verursachen, sagt Edith Oosenbrug.

Die Fernsehbilder aus dem überschwemmten Rorschach lockten 1999 auch Hochwassertouristen an. Am Hafenkiosk waren die Filme für Fotoapparate innert kürzester Zeit ausverkauft. Für die Ausflügler bot das Schifffahrtsamt zwischen Hafen und Kornhaus für 15 Franken Hochwasser-Rundfahrten an. Besonders betroffen vom Hochwasser waren die Thurgauer Untersee-Gemeinden. Alleine im Kanton Thurgau beliefen sich die Schäden auf 15 Millionen Franken. Der Regierungsrat lancierte sogar eine Spendenaktion, um nicht versicherte Schäden zu decken. Prekär war die Lage nicht nur am Bodensee. Im Rheintal wurde das Rheinvorland überschwemmt, und im Vorarlberg mussten wegen Hangrutschen zahlreiche Menschen in Sicherheit gebracht werden. Am Linthkanal kämpften die Einsatzkräfte während Tagen gegen einen drohenden Dammbruch. Von der Hochwasserfront betroffen war auch das Thurgebiet. Bedrohlich war die Lage in Weesen am Walensee. Über 400 Menschen mussten evakuiert werden, nachdem oberhalb des Dorfes rund eine Million Kubikmeter Geröll und Schlamm in Bewegung ­geraten waren.