Scherben, Knochen, bleierne Flüche

ST. ALLEN. Der St.Galler Boden ist voller Geheimnisse aus der Vergangenheit. Die Kantonsarchäologie zeigt aktuelle Funde – etwa den Brief einer Frau, die sich vor 1800 Jahren über einen Diebstahl ärgerte.

Adrian Vögele
Drucken
Archäologe Pirmin Koch zeigt eine Bleitafel aus einem römischen Tempelbezirk in Kempraten. (Bild: Hanspeter Schiess)

Archäologe Pirmin Koch zeigt eine Bleitafel aus einem römischen Tempelbezirk in Kempraten. (Bild: Hanspeter Schiess)

Archäologen kennen keine Sommerpause. Im Gegenteil: Da in der warmen Jahreszeit viel gebaut wird, sind sie besonders gefragt. Sie beurteilen, wie geschichtsträchtig der Boden der Baustellen ist, sondieren und erforschen den Untergrund. Immer unter Zeitdruck, da die Bauherren ihre Projekte rasch vorantreiben wollen. Die Mitarbeiter der St.Galler Kantonsarchäologie sind derzeit unter anderem wegen der vielen Bauarbeiten in der Stadt St.Gallen im Dauereinsatz. Sie begleiten beispielsweise den Ausbau des Fernwärmenetzes. «An manchen Orten beginnt das Mittelalter bereits 40 Zentimeter unter dem Pflaster», sagt Thomas Stehrenberger, Projektleiter der Ausgrabungen in der Altstadt St.Gallen. So sind die Archäologen kürzlich auf menschliche Knochen gestossen, die auf einem Pestfriedhof bei St. Mangen lagen. Im Bereich der Augustinergasse entdeckten sie Überreste des mittelalterlichen Metzgerturms, der auf alten Stadtplänen eingezeichnet ist. Aber auch Funde aus der Neuzeit gibt es: «Gestern hat uns ein Polier angerufen – auf seiner Baustelle wurde eine Mineralwasserflasche aus dem 19. Jahrhundert gefunden», sagt Stehrenberger. Sie stammt aus dem deutschen Herzogtum Nassau.

Etwas mehr Platz

Nach dem Finden und Ausgraben fängt die archäologische Arbeit erst richtig an: In den Räumen der Kantonsarchäologie an der Rorschacher Strasse sind auf Holztischen unzählige Fundstücke ausgelegt, die auf eine nähere Bestimmung und Datierung warten – meist sind es Ton- und Keramikscherben. «Seit die kantonale Denkmalpflege im März in die Hauptpost umgezogen ist, haben wir etwas mehr Platz», sagt Martin Schindler, Leiter der Kantonsarchäologie. Das kommt gelegen, denn Unmengen an weiterem Fundmaterial warten noch in Plastikkisten.

Selten und damit besonders wertvoll sind Fundstücke aus Metall. Zurzeit bearbeiten die Archäologen eine ganze Reihe solcher Schätze. Dazu gehören vier kleine Tafeln aus Blei, die aus der Grabungsstätte in Kempraten (Rapperswil-Jona) stammen. «Sie lagen in einem gallo-römischen Tempelbezirk», sagt Pirmin Koch, der die Auswertung der Funde aus Kempraten leitet.

Klage bei der Göttermutter

Auf den römischen Bleitafeln sind Schriftzeichen eingraviert. Eine der vier Inschriften haben die Archäologen inzwischen mit der Hilfe externer Experten entziffert. «Es ist ein Brief einer Frau an die Magna Mater, die römische Göttermutter», sagt Koch. Es geht um ein höchst irdisches Problem: Die Frau beklagt den Diebstahl einer Lampe und bittet die Göttermutter, den unbekannten Täter zu bestrafen. Die Inschrift endet mit einem Fluch: Wer die Tat begangen oder dabei geholfen habe, solle im Dreck liegen, «wie dieser Brief». 1800 Jahre alt ist die Tafel – es ist der älteste bekannte Brief im Kanton. In der Schweiz war bisher erst etwa eine Handvoll solcher römischer Fluchtafeln aufgetaucht, weshalb der Fund in Kempraten sehr bedeutend ist.

Zuerst kam das Geld

Noch älter als die Bleitafeln ist eine römische Silbermünze, die in Weesen gefunden wurde: Sie stammt aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. «Die Münze war womöglich schon über den Handel hierhergelangt, bevor die Römer das Gebiet der heutigen Schweiz besiedelten», sagt Martin Schindler. Auch dass sie aus Silber sei, sei speziell. «Die meisten antiken Münzen, die wir finden, sind aus Bronze.»

Weesen ist ein archäologischer Glücksfall: Es wimmelt hier von mittelalterlichen Überresten und Gegenständen – und sie stammen alle aus derselben Zeit. Denn Weesen fiel 1388 dem Krieg zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern zum Opfer – die Einwohner wurden getötet oder verliessen ihre Häuser Hals über Kopf, die Stadt brannte nieder. Die Überreste blieben über Jahrhunderte unberührt, da das neue Weesen auf neuem Boden wieder aufgebaut wurde. Der Effekt sei ähnlich wie in Pompeji nach dem Ausbruch des Vesuv, sagt Valentin Homberger, Projektleiter der Ausgrabungen in Alt-Weesen. «Je grösser das Unglück, desto grösser das spätere Glück des Archäologen.»

In Alt-Weesen wurden ungewöhnlich viele Metallgegenstände gefunden, darunter Schlüssel, Schlösser und Beschläge. Aber auch Waffen und Rüstungsteile kamen zum Vorschein, etwa zwei Helmvisiere – «sie sind für die damalige Zeit äusserst modern», sagt Homberger.

Fünf Angestellte

Die Kantonsarchäologie verfügt über 2,7 Stellen, verteilt auf fünf Mitarbeiter. Hinzu kommen freie Mitarbeiter, die im Rahmen von Lotteriefondsprojekten hinzugezogen werden. «Wir sind im Vergleich mit anderen Kantonen eher schwach dotiert», sagt Martin Schindler. Erfreulich sei, dass die Archäologie seit 2014 einen festen Platz im Historischen und Völkerkundemuseum habe. Dort wird die archäologische Arbeit anschaulich gezeigt und in Workshops vermittelt. Und es wird dort wieder sichtbar, was während Jahrhunderten im Dunkeln lag.

Mit dem Ausgraben ist es nicht getan: Fundstücke warten darauf, bestimmt und datiert zu werden. (Bild: Hanspeter Schiess)

Mit dem Ausgraben ist es nicht getan: Fundstücke warten darauf, bestimmt und datiert zu werden. (Bild: Hanspeter Schiess)

Eine römische Silbermünze aus dem 1. Jahrhundert nach Christus, gefunden in Weesen. (Bild: Hanspeter Schiess)

Eine römische Silbermünze aus dem 1. Jahrhundert nach Christus, gefunden in Weesen. (Bild: Hanspeter Schiess)