Der umstrittene Asylchef geht: Weshalb Roger Hochreutener als Geschäftsführer des Trägervereins Integrationsprojekte St.Gallen zurücktritt

Überraschend gibt Roger Hochreutener die Geschäftsleitung des Trägervereins Integration St.Gallen ab. Er will sich auf seine Funktion als Eggersrieter Gemeindepräsident konzentrieren.

Adrian Lemmenmeier, Marcel Elsener
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Roger Hochreutener verlässt den TISG auf Ende Jahr. Bild: Michel Canonica (5. November 2015)

Roger Hochreutener verlässt den TISG auf Ende Jahr. Bild: Michel Canonica (5. November 2015)

Roger Hochreutener polarisiert. Für die einen ist der Geschäftsleiter des Trägervereins Integrationsprojekte St. Gallen (TISG) ein genialer Macher, der mit unglaublich viel Energie neue Strukturen im Asylbereich aufgebaut hat. Für die anderen ist er ein Sparer, dem es im Asylwesen mehr auf die Interessen der Gemeinden – und weniger auf jene der Flüchtlinge – ankommt. Bald wird Hochreutener von der Bühne des St.Galler Migrationswesens verschwinden. Der TISG hat gestern seinen Rücktritt bekannt gegeben. «Es ist der richtige Zeitpunkt», sagt Hochreutener. «Der TISG steht sehr gut da.» Das betreffe zum einen die Finanzen, zum anderen auch die rechtliche Situation. Eine neue Asylverordnung zementiert die Kompetenzverteilung zwischen Kanton und Gemeinden, die bis anhin in einer Leistungsvereinbarung geregelt war (siehe Zweittext).

Hochreutener ist seit fast 20 Jahren für die St. Galler Gemeinden tätig. 1999 wurde er zum Geschäftsführer der Vereinigung der St.Galler Gemeindepräsidentinnen und Gemeindepräsidenten (VSGP) gewählt. In dieser Funktion habe er Dutzende Geschäfte begleitet, heisst es in einer Medienmitteilung von VSGP und TISG. Zum Beispiel die Revision des Sozialhilfe-, des Planungs- oder des Finanzausgleichgesetzes. Vor zwei Jahren wurden die personellen Strukturen von VSGP und TISG entflochten. Seither ist die VSGP für strategische Entscheide zuständig. Der TISG führt die operativen Geschäfte im Asylbereich. Hochreutener amtet seither ausschliesslich als Geschäftsführer des TISG.

«Er bewältigt extrem viel»

Im Oktober 2008 hat die Regierung des Kantons St.Gallen entschieden, die Betreuung von Flüchtlingen und Asylsuchenden an die Gemeinden zu übertragen. Innert Wochen habe Hochreutener Grundlagen für die Integration der Asylsuchenden und Flüchtlingen ausgearbeitet, heisst es in der Mitteilung weiter. «Mit einer Arbeitsgruppe entwickelte er die regionalen Potenzialabklärungsstellen für Flüchtlinge (REPAS), deren Ziel die berufliche Integration ist. Als der Kostendruck bei der Sprachintegration stieg, fand er bei ‹Liechtenstein Languages› eine Sprachmethodik und einen Partner für die sehr erfolgreichen Quartierschulen.» In den letzten zwei Jahren hat sich Hochreutener besonders auf den Aufbau des Internats Marienburg für unbegleitete minderjährige Asylsuchende konzentriert.

«Wir bedauern den Rücktritt von Roger Hochreutener», sagt Boris Tschirky, Präsident des VSGP. «Er war massiv am Aufbau von VSGP und TISG beteiligt und hat sehr wertvolle und erfolgreiche Arbeit für die Gemeinden geleistet». Patrik Müller, Präsident des TISG, sagt:

«Ich habe zehn Jahre mit Roger Hochreutener zusammengearbeitet – und ihn als äusserst engagierte Person erlebt.»

Hochreutener bringe Ideen, wisse sie mit Überzeugung umzusetzen und sei unglaublich dossierfest.

Diese Eigenschaften attestieren Hochreutener auch seine Kritiker. «Er bewältigt extrem viel», sagt Gabriela Hauser. Die Juristin ist ehrenamtliche Beraterin der Solidaritätsorganisationen Ostschweiz. Auch kenne sich Hochreutener gut im Asylwesen aus und wisse deshalb die vielen rechtlichen Graubereiche zu Gunsten der Gemeinden auszunutzen.

«Er stellt die Interessen der Gemeinden vor die Interessen der Migranten.»

Die REPAS seien ausserdem oft nicht auf langfristige Integrationsmassnahmen ausgerichtet. So sei erst kürzlich eine Frau zur Ausbildung in eine Bäckerei zugewiesen worden, obwohl sie Berufserfahrung im Pflegebereich hatte. «Die Gemeinden müssen die Zusammenarbeit mit den Repas überdenken, denn sie erfüllen ihre Aufgaben zu wenig.» Ins gleiche Horn stösst Hannelore Fuchs, Präsidentin der Beobachtungsstelle Asyl- und Ausländerrecht und langjährige Kritikerin Hochreuteners. «Vordergründig sehen die Integrationsmassnahmen des TISG stets professionell aus. Doch dahinter verbirgt sich in der Regel eine Sparmassnahme zum Nachteil der Betroffenen.»

Hochreutener hat sich Kritik gewöhnt. 2014 hat ein Rechtsprofessor das Organigramm der VSGP wegen Ämterkumulation um Geschäftsführer Hochreutener bemängelt. «Das war lächerlich», sagt Hochreutener heute. Es sei ihm nachgesagt worden, dass er zu viel Macht auf sich vereine. Als Geschäftsführer entscheide er aber nicht, sondern müsse an der operativen Front Lösungen finden. «Das ist nicht Macht – das ist ein Krampf.» Wenn ein Integrationsprojekt nicht ideal funktioniere, richte sich der Frust gegen ihn. «In meiner Funktion kommt man nicht ohne Blessuren davon.» Das sei aufreibend.

Beim Kanton schätzt man die Zusammenarbeit

Unserm Strich seien viele Projekte des TISG erfolgreich, sagt Hochreutener. Das bestätigt Claudia Nef, Leiterin des kantonalen Kompetenzzentrums fürs Integration und Gleichstellung: «Wir schätzen die Programme des TISG sehr.» Und grundsätzlich habe das Kompetenzzentrum mit dem TISG eine enge und gute Zusammenarbeit.

Diese Zusammenarbeit wird nächstes Jahr Hochreuteners Nachfolge weiterführen. Die Stelle werde zu gegebener Zeit ausgeschrieben, sagt TISG-Präsident Patrik Müller. Und Roger Hochreutener? Er wolle sich nun voll auf seine Stelle als Gemeindepräsident von Eggersriet konzentrieren. Das dortige Pensum beträgt 40-Prozent – genug für den umtriebigen Schaffer? «Das wird sich zeigen», sagt er. Nach seinem Rücktritt müsse er aber erst einmal lernen, Ferien zu machen. «Drei Wochen ohne Handy – das ist mein Ziel.»

Die Kompetenzen im Asylwesen

Der Kanton St.Gallen teilt sich die Kompetenzen im Asylbereich mit den Gemeinden auf. Seit Beginn des Jahres werden Personen mit Bleiberecht nicht mehr von den Bundesasylzentren nicht wie bisher zuerst auf kantonale Asylzentren, sondern direkt in die Gemeinden verteilt. Der Kanton ist aber weiterhin für Asylgesuche mit vertiefenden Abklärungen zuständig. Auch hat er seit diesem Jahr den Bereich Nothilfe übernommen. Abgewiesene Asylsuchende, die Nothilfe erhalten, sind nun im Ausreisezentrum Sonnenberg in Vilters untergebracht.
Flüchtlinge mit positivem Asylentscheid oder vorläufiger Aufnahme sollen rasch in die Gemeinden integriert werden. Kanton und VSGP haben sich vor zwei Jahren darüber geeinigt, dass diese Personen unmittelbar nach ihrem Austritt aus dem Bundesasylzentrum in kommunale Strukturen wechseln. Dort sollen die Flüchtlinge auf den Aufenthalt in einer Gemeinde und auf ein selbstständiges Leben vorbereitet werden. Personen, für die es weitere Abklärungen braucht, werden wie bisher vom Kanton in Kollektivunterkünften untergebracht. Sie sollen dort auf die Integration in einer Gemeinde vorbereitet werden – es erfolgt aber auch eine Rückkehrorientierung. (al)