In Gipfelnähe wird die Luft dünn

Die Thaler Profi-Mountainbiker Jolanda Neff und Thomas Litscher haben an den Europameisterschaften in Bern enttäuscht. Beide bewegen sich aber im Dunstkreis der Weltspitze einer olympischen Sportart, wo sich kleine Fehler und Schwächen verheerend auswirken – und es deshalb nicht so etwas wie eine «Medaillen-Garantie» gibt. Von Yves Solenthaler

Drucken
Jolanda Neff gewann mit Silber im Team Relay die einzige Rheintaler Medaille an der Heim-Europameisterschaft in Bern.

Jolanda Neff gewann mit Silber im Team Relay die einzige Rheintaler Medaille an der Heim-Europameisterschaft in Bern.

Kommentar

Die Mountainbike-Europameisterschaften in Bern waren ein für Titelkämpfe mustergültiger Anlass: Publikumswirksame Auftaktrennen in der Bundesstadt, hervorragend organisierte Hauptprüfungen auf dem nahen Berner Hausberg Gurten. Was für ein Kontrast zu früheren EM, die in abgelegenen Orten und teilweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Vor allem mit dem Eliminator und dem Team Relay rund ums Bundeshaus setzten die Organisatoren neue Standards: Die Zuschauer kommen in Strömen, wenn die Wettkämpfe so nahe stattfinden. Werden die Rennen irgendwo auf einem weit entfernten Hügel ausgetragen, kommen hingegen nur die Insider.

Silbermedaillengewinner Nino Schurter und viele andere Cracks waren früher Anlässen des nahezu unbekannten europäischen Radsportverbands UEC oft ferngeblieben. Diesmal sprach nicht nur der Bündner von den «besten Europameisterschaften aller Zeiten».

Das lässt sich übers Abschneiden der Rheintaler nicht sagen. Von Junior Simon Vitzthum und U23-Fahrer Enea Vetsch war realistisch nicht viel mehr zu erwarten als ihre 28. Plätze. Aber Thomas Litscher (24-jährig) und Jolanda Neff (20) hatten im Cross Country zu Recht höhere Ziele als die Ränge 23 (Litscher) und 4 (Neff). Zudem vergab Litscher im Eliminator eine sehr realistische Medaillenchance. Silbernes Edelmetall gab es hingegen für Neff im Team Relay.

Litscher ist Top-10-Fahrer

Thomas Litscher ist in seinem erst zweiten Jahr im Elite-Alter im Weltcup ein Top-10-Fahrer, (noch) nicht ein Mann für regelmässige Spitzenklassierungen. Seine mit Abstand beste Klassierung ist ein vierter Rang beim Weltcup in Nove Mesto (Tschechien). Das ist kein Palmarès, um an Europameisterschaften, an denen von Spitzenfahrern nur Olympiasieger Kulhavy fehlt, mit einer Medaille rechnen zu können. Der 23. EM-Platz entspricht nicht seiner Klasse, ist aber kein Absturz.

Gerade auf physisch anspruchsvollen Strecken wie dem Berner Gurten, wo meistens die Aufstiege entscheidend sind, hat er als einer der körperlich grössten Biker einen natürlichen Nachteil. Anders sieht dies im Eliminator aus: Litschers körperliche Konstitution macht ihn für die vor allem Schnellkraft erforderliche Disziplin zum Modellathleten. Deshalb erstaunt es nicht, dass ihn die am Freitag vergebene Chance (frühes Ausscheiden nach der besten Vorlaufzeit) mehr ärgert als das unbefriedigende Abschneiden im Cross Country vom Sonntag.

Der Thaler braucht für die letzten paar Schrittchen in die absolute Weltspitze vor allem Geduld. Er setzt sich selbst oft zu sehr unter Druck, was ihn manchmal blockiert – genau das ist auf dem Gurten passiert. Zudem sollte er sich wohl noch eine Portion Biss aneignen, um leistungsmässig zu Schurter & Co. aufschliessen zu können. Manchmal entsteht der Eindruck, dass Litscher innerlich aufgibt, wenn es ihm nicht wie gewünscht läuft – das war allerdings an den Europameisterschaften explizit nicht der Fall. Im Gegenteil: Dort kämpfte sich Litscher nach einem desaströsen Beginn ins Rennen zurück.

Das frühe Out im Eliminator war eine Dummheit, die ihm wohl nicht mehr passieren wird.

Neff: Hohe Erwartungen

Bei Jolanda Neff besteht die Tendenz, dass die Erwartungshaltung nach ihrem überragenden Jahr 2012 ins Unermessliche steigt. Dass sie die Favoritenrolle annimmt – wie es auch Nino Schurter regelmässig macht –, spricht für ihren Siegeswillen. Dass sie aber als «Favoritin mit eingebauter Medaillen-Garantie» (offizielle EM-Rennzeitung) bezeichnet wird, kann nicht in ihrem Interesse sein.

Frappierend sind ihre technischen Fähigkeiten – das war auch in den technisch schwersten Passagen des EM-Rennens zu sehen: Ausser vielleicht Olympiasiegerin Julie Bresset fuhr keine Frau die technischen Herzstücke wie Dreifach-Schanze mit anschliessendem freien Fall und Pump-Section (Buckelpiste) so elegant wie die Thalerin.

Bis und mit dem Juniorenalter reichte es meist zum Sieg, wenn sie ihr Tempo fuhr. Zwar ist die Leistungsdichte bei den Frauen nicht so ausgeprägt wie bei den Männern, doch auch für Neff wird die Luft dünner, je näher sie dem Gipfel kommt. Für sie ist die Umstellung zum Sport-Profi sicher noch eine Herausforderung. Um ganz auf den Gipfel zu kommen, muss sie jedoch vor allem taktisch variabler werden, das Tempo zu gegebener Zeit auch mal dosieren können.

Das EM-Rennen war dafür ein Beispiel: Die Ukrainerin Jana Belomoina wäre am Samstag auch für eine Jolanda Neff in Topform eine Knacknuss geworden. Wenn sie früher gespürt hätte, dass Gold diesmal nicht möglich war, hätte sie wahrscheinlich eine Medaille gewinnen können – auch wenn ihr ein paar Prozent zu ihrem Topniveau gefehlt haben.

Fernziel Olympia 2016

Die beiden Thaler sind näher an der Weltspitze einer weitverbreiteten Sportart als jeder andere Rheintaler. Sie haben beste (Neff) bzw. intakte (Litscher) Chancen, 2016 an den Olympischen Spielen in Rio starten zu können. Ihre Persönlichkeitsprofile unterscheiden sich stark. Richtig und falsch gibt es dabei nicht: Spitzensportler müssen mit ihrem weitgehend in die Wiege gelegten Charakter so auskommen, dass damit Höchstleistungen möglich sind.

Tröstlich in der Enttäuschung: Grosse Sportler-Persönlichkeiten werden nicht zuletzt durch Niederlagen herangebildet.

Thomas Litscher hat seine grösste Medaillenchance im Eliminator auf ärgerliche Art und Weise vergeben. (Bilder: Yves Solenthaler)

Thomas Litscher hat seine grösste Medaillenchance im Eliminator auf ärgerliche Art und Weise vergeben. (Bilder: Yves Solenthaler)