Literaturfestival Wortlaut
«Ich habe genug davon, dass homosexuelle Figuren bestraft werden»: Die Basler Schriftstellerin Yael Inokai begeistert am Wortlaut mit ihrem Krankenschwesternroman

Sie ist klug und schlagfertig: Autorin Yael Inokai hat nach ihrer Lesung am Literaturfestival Wortlaut ein paar neue Fans. Die Baslerin bringt eine neue literarische Figur aufs Tapet: die Krankenschwester.

Melissa Müller
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«Ich liebe meine Romanfigur»: Schriftstellerin Yael Inokai (rechts) mit Moderatorin Anya Schutzbach.

«Ich liebe meine Romanfigur»: Schriftstellerin Yael Inokai (rechts) mit Moderatorin Anya Schutzbach.

Bild: Michel Canonica

Nach der Lesung der jungen Basler Autorin Yael Inokai bildet sich am St. Galler Literaturfestival Wortlaut eine Schlange am Büchertisch: Etliche Zuhörerinnen und Zuhörer sind so beeindruckt, dass sie ihren neuen Roman «Ein simpler Eingriff» über Gehirnoperationen in der Psychiatrie sofort kaufen. Da ist ein Herr, der das Buch schon gelesen hat und es einem befreundeten lesbischen Paar schenken will. Die eine sei Krankenschwester – da ist dieses Buch fast Pflichtlektüre.

Romanheldin Meret arbeitet als Krankenschwester in einer Klinik, in der aufmüpfigen jungen Frauen die Wut aus dem Gehirn operiert werden soll. Die Ärzte «korrigieren» mittels Hirnoperationen psychische Auffälligkeiten. Inokai entwirft ein dystopisches Szenario, das an ein düsteres Kapitel der Psychiatrie erinnert. Zugleich schildert sie eine zarte Liebesgeschichte, die sich zwischen Meret und ihrer Zimmernachbarin Sarah im tristen Schwesternwohnheim anbahnt.

Aus dem Rausch der Narkose

Trotz schönstem Frühlingswetter ist der Festsaal im Stadthaus am Samstagmorgen bis auf den letzten Platz besetzt. Im Publikum sitzen auch Frauen, die Frauen lieben, sowie Pflegefachfrauen und Psychiatriepflegerinnen. 50 Augenpaare sind auf die Autorin gerichtet. Ungeschminkt, von Kopf bis Fuss in Schwarz, liest die 33-Jährige mit ruhiger Stimme klare Sätze vor. Darüber, wie Patientinnen aus der Rausch der Narkose in ihrem schmerzenden Körper erwachen. Und wie Protagonistin Meret ihre neue Patientin Marianne kennen lernt, eine selbstbewusste Tochter aus gutem Haus, der die grausame Operation noch bevorsteht. In wenigen Sätzen baut die Literatin Spannung auf. Und beweist: Die gute alte Wasserglaslesung ist nicht tot. Es fasziniert, eine Autorin in Fleisch und Blut kennen zu lernen.

Die Schweizer Autorin Yael Inokai.

Die Schweizer Autorin Yael Inokai.

Bild: Edith Fritschi / SDA

Zwischendurch interviewt Anya Schutzbach, Leiterin des Literaturhauses Wyborada, die Schriftstellerin, die in der «NZZ am Sonntag» kürzlich als «Zauberin der Schweizer Literatur» betitelt wurde. «Kann man Ihren Roman als feministischen Protest gegen eine Gesellschaft lesen, in der alles optimiert wird? Gegen die Auslöschung des Widerspenstigen?», fragt sie. «Ich habe den Roman nur geschrieben. Ich habe ihn nicht für Sie gelesen», gibt Inokai schlagfertig zurück. Was man mit dem Buch anstelle und wie man es interpretiere, sei Sache der Leserinnen und Leser. Sie habe auch keinen historischen Roman über medizinische Experimente schreiben wollen, sagt die Tochter einer Krankenschwester. Die Handlung sei frei erfunden, losgelöst von Zeit und Raum.

Figur voller Widersprüche

Einerseits ist Meret ängstlich und angepasst. Sie glaubt an den medizinischen Fortschritt, die Hierarchie im Spital gibt ihr Sicherheit. Andererseits verliebt sie sich in eine Frau und riskiert den Ausbruch aus Konventionen. «Wie geht das zusammen?», will Anya Schutzbach wissen. «Ich liebe meine Romanfigur, zugleich ist sie mir unheimlich», sagt Yael Inokai über ihre widersprüchliche Heldin. Ein Mensch sei wie ein Haus mit vielen Räumen. Einige kennt man, andere sind einem verschlossen. «Und plötzlich geht eine neue Tür auf.» Es könne passieren, dass man eine Person kennen lernt, die einen neuen, noch unbetretenen Raum in einem öffnet.

Leider verrät die Autorin in der Lesung schon, wie das Buch endet, nämlich hoffnungsvoll für die Liebenden. «Poetische Gerechtigkeit», nennt sie das. Sie habe genug davon, dass man homosexuelle Figuren in Filmen oder Büchern vorzeitig sterben lässt, als ob sie eine Strafe verdient hätten. «Nein – für diese beiden Frauen wird es keine Strafe geben», habe sie sich gesagt. Deshalb endet das Buch mit einem schönen Wort aus zwei Buchstaben: Ja.

Poetry-Slam, Graphic Novel und Virtual Reality: Das St. Galler Literaturfestival Wortlaut deckt mit 25 Veranstaltungen in Grabenhalle, Palace und Kellerbühne ein breites Spektrum ab. Bis Sonntag, 27. März.