Schweizer Künstler werden angegriffen, weil sie Dreadlocks tragen: Aus Sicht unseres Kolumnisten Walter Hugentobler ist das schlicht daneben. Kultureller Austausch gehöre zu einer weltoffenen, aufgeklärten Gesellschaft. Das Gegenteil sei gefährlich.
Mit Entsetzen habe ich mitverfolgt, wie in der Schweiz Konzerte abgebrochen oder abgesagt wurden, weil ein einheimischer Musiker mit Dreadlocks aufgetreten ist oder auftreten wollte. Was ist denn daran kulturelle Aneignung? Ein Künstler spielt eine Musikrichtung, die ihm gefällt und drückt seine Verbundenheit mit den dahinter stehenden Menschen und ihrer Kultur auch durch seine äussere Erscheinung aus. Das entspricht seinem Lebensgefühl!
In unserer freien Welt sind wir doch stolz darauf, dass wir seit dem Zeitalter der Aufklärung eine Entwicklung durchlaufen haben, welche die kulturelle Vielfalt in unserer Welt wahrnimmt, schätzt und fördert! Eine Entwicklung, in der wir Andersartigkeit als bereichernd erleben und respektieren und zugleich unsere Persönlichkeit ausleben dürfen.
Das soll jetzt plötzlich kulturelle Aneignung sein?
Was ist es denn, wenn ich einen Döner verdrücke? Ist das kulturelle Einverleibung? Oder einen Hamburger mit Cola? Ja, das ist vielleicht kulturlos, aber sicher kein Anlass für rechtliche Konsequenzen. So ein Schmarren.
Und dann die Anmassung, die Kritik auf die Perücke von Nadeschkin auszuweiten. Sie tritt seit Jahren mit dem gleichen Wischmopp auf dem Kopf auf, vielleicht kann der entfernt an eine Rastafrisur erinnern. Ich habe mich schon unzählige Male an der Comedy dieses Duos amüsiert und nie, nie hatte ich den absurden Gedanken, dass sie sich damit respektlos oder despektierlich gegenüber einer anderen Kultur zeigen würden! Aber vielleicht hat jemand, der dahinter rassistische Motive vermutet, selber Probleme mit seiner kulturellen Identität.
Und mir kamen Zweifel, ob ich mich vor einigen Jahren, als ich spontan in einen türkischen Barbershop getreten bin und einen etwas anderen Haarschnitt als vom angestammten Coiffeur meines Vertrauens rausgetragen habe, ob ich mich da nicht der kulturellen Aneignung schuldig gemacht habe? Ich hoffe, die Sache ist verjährt.
Kulturelle Aneignung– was braucht es eigentlich für diesen Tatbestand? Für mich die klare Absicht und den Willen, eine andere Kultur lächerlich zu machen. Bei den angegriffenen Künstlern und auch bei meinem Friseurbesuch habe ich das nicht festgestellt. Das zeugt doch gerade davon, dass wir in einer weltoffenen Gesellschaft leben. Weil wir andere Kulturen oder Teile daraus nicht verhöhnen, sondern ganz selbstverständlich in unsere Gesellschaft, unseren Alltag, unser Leben integrieren. Wir sprechen von Offenheit und Toleranz und plötzlich wird da abgegrenzt, ausgegrenzt. Folgt dann darauf das Gebot der kulturellen Reinheit? Fürchterlich – wie die Geschichte zeigt!
Wenn ich Blues und Jazz höre, chinesisches Essen geniesse, kubanische Zigarren rauche, südamerikanische Literatur lese, eine Bildungsreise in den Orient unternehme, dann ist das kultureller Austausch und hat nichts mit Aneignung zu tun! Das Einzige, was ich mir in meinem Leben angeeignet habe, ist Wissen. Wissen führt zu Offenheit, zu Toleranz, zu Verständnis und war für mich immer positiv konnotiert.
Übrigens: es herrscht immer noch Krieg in Europa. Vielleicht ist das ein wirkliches Problem, um das wir uns Gedanken machen müssen. Vielleicht hätte ja auch da kultureller Austausch das Schlimmste verhindern können – anstatt nationalistischer Ab- und Ausgrenzung.
Walter Hugentobler ist Thurgauer SP-Urgestein und Direktor des Klosters Fischingen. Er schreibt diese Kolumne immer montags im Turnus mit Toni Brunner, Ulrike Landfester und Samantha Wanjiru.