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Im Bodenseeraum funktioniere die Völkerverständigung im Grossen und Ganzen ausgezeichnet, findet unsere Kolumnistin. Für ein Zusammenwachsen der «Willensregion» brauche es nicht nur nur kreative Begabung, sondern auch Training und einen langen Atem – kleinere Verspätungen fallen da kaum ins Gewicht.
Also, wenn das nicht wirklich der Gipfel ist: Da versammelt sich die Internationale Bodenseekonferenz auf dem Säntis und verschlagwortet im Beisein von Bundespräsident Ignazio Cassis die Bodenseeregion und mit ihr die Ostschweiz – «Grenzgebiet, Willensregion, Problemzone» war die Schlagzeile dieser Zeitung dazu. Schlag auf Schlag. Jeggelesnai, wie die Gallyriker in der beginnenden Schnitzelbank-Saison zweifellos singen würden und bald auch hoffentlich werden.
Nicht, dass die Region kein Grenzgebiet wäre, im Gegenteil, sie ist es im besten Sinne, und sie eignet sich deshalb wie wenige andere Regionen der Schweiz oder sogar Europas bestens dazu, ein Vorbild bei der Definition eines Grenzgebiets als Lebensraum zu werden. Und als Gipfel auf einem Gipfel zu sitzen, ermöglicht zweifellos einen visionären Panoramablick der besonders leitfähigen Art auf alle die internationalen Vorgärtchen, die gemeinsam vom Bodensee aus bewässert werden sollen.
Kleinere Ausfälle wie eine vorübergehende pandemiegeschuldete Grenzschliessung sind ja keine wirklich schweren Schläge unter die Gürtellinie, und im Grossen und Ganzen funktioniert die Völkerverständigung ausgezeichnet, wenn sie auch gelegentlich eines gewissen Unterhaltungswerts nicht ermangelt, wie mir jüngst ein (Schweizer) Kollege erzählte: Da habe ein Schweizer Grenzbeamter einen deutschen Autofahrer angehalten und höflich gefragt: «Haben Sie Waren?» Und der Deutsche habe in unschuldiger Schnöseligkeit zurückgefragt: «Muss das nicht heissen: Sind Sie gewesen?» Das erinnert mich doch an die Zeit, als mir der Panoramablick noch völlig abging und ich ernsthaft glaubte, eine Schnitzelbank sei eine Bank, auf der man Schnitzel isst. Jeggelesnai.
Willensregion? Ja bitte, unbedingt. Aber dabei nicht den bekannten Spruch vergessen, dass Kunst von Können kommt und nicht von Wollen, sonst hiesse sie Wulst. Die Bodenseeregion als gemeinsamen Lebensraum zu wollen, ist das eine; sie zu einem solchen zu gestalten, ist das andere. Letzteres erfordert Kunst, und die braucht nicht nur kreative Begabung, sondern Training und einen langen Atem. Selbstbewusstsein, und gerade gemeinsames Selbstbewusstsein, will gelernt und geübt sein, wenn alle von demselben Blatt spielen sollen – und das mit Respekt auch vor denjenigen, die, wie in manchen Dingen die Ostschweiz, auch mal ein wenig später zur Generalprobe kommen. Ich erinnere mich, einmal die Aufzeichnung einer solchen Probe gesehen zu haben, bei der der dirigierende Karajan entnervt abbrach und ausrief: «Der erste Trompeter ist zu laut!» Der zweite Trompeter rief zurück: «Der ist noch nicht da!» Und Karajan darauf: «Dann sagen Sie es ihm, wenn er kommt!» Denn kommen wird sie, die Ostschweiz, und da braucht es Dirigenten, die sie schon hören, wenn sie noch nicht da ist.
Aber Problemzone? Ehrlich? Dass die Verkehrsanbindung der Bodenseeregion selbst ohne den Flugverkehr Luft nach oben hat, gebe ich jederzeit gerne zu. Aber wenn man denn dafür schon ein Wort wählt, das ich persönlich üblicherweise eher für Akneattacken, Orangenhaut und ähnliche selbstbewusstseinsschädigende Zumutungen verwende, dann muss das Marketing der kurativen Pflegeprodukte für die Teilproblemzone Ostschweiz dringend perfektioniert werden, im Idealfall mithilfe gallyrischer Schnitzelbankgesänge: «Jeggelesnai, jeggelesnai, lasst uns trompeten, / Jeggelesnai, jeggelesnai, so laut wie`s geht – / Falls wir uns bei Proben dann auch mal verspäten, / Hören wird man uns, so lang der Säntis steht.»
Ulrike Landfester ist Professorin für Deutsche Sprache und Literatur an der HSG. Sie schreibt diese Kolumne immer montags im Turnus mit Toni Brunner, Samantha Wanjiru und Walter Hugentobler.