In der AHV-Debatte gehen die Meinungen der St. Galler Standesvertreter diametral auseinander. Lieber keine Reform als diese, sagt Karin Keller-Sutter. Nur mit einem Zusatz bei der AHV habe die Vorlage eine Chance, meint Paul Rechsteiner.
Jürg Ackermann, Andri Rostetter
Paul Rechsteiner, die AHV-Debatte geht in die letzte Runde. Wie sehen Sie die Chance, dass die Vorlage durchkommt?
Rechsteiner: Im Nationalrat gibt es eine knappe Mehrheit, die das Paket noch versenken könnte. Aber der Ständerat hat auch hier gut gearbeitet und wird sich absehbar durchsetzen. Es geht um eine der wichtigsten Vorlagen für viele Jahre. Die letzten Reformen sind alle gescheitert. Die grösste Hürde ist aber nicht das Parlament, sondern die Volksabstimmung im September.
Karin Keller-Sutter, sind Sie ebenfalls optimistisch?
Keller-Sutter: Es gibt Leute, die gegen diese Reform sind, aber dennoch Ja sagen, weil sie eine Volksabstimmung ermöglichen wollen. Der Nationalrat hat einen Schritt gemacht und verschiedene Positionen aufgegeben. Er will aber, dass der Ständerat auch entgegenkommt. Es ist das Wesen des Zweikammer-Systems, dass sich beide Seiten bewegen. Der Ständerat hat bis jetzt aber auf seiner Position beharrt. Das ist keine gute Voraussetzung für die Volksabstimmung.
Der Ball liegt bei Ihnen, Herr Rechsteiner. Die Mitte-Links-Mehrheit im Ständerat müsste nur auf die 70-Franken-Erhöhung verzichten, dann wäre die Reform gerettet.
Rechsteiner: Die Vorlage, wie sie der Ständerat befürwortet, ist ja bereits ein Kompromiss. Die Erhöhung des Frauenrentenalters zum Beispiel ist eine bittere Pille. Die Positionen, die der Nationalrat nun aufgibt, wie die schrittweise Erhöhung auf 67 Jahre, waren ja so oder so hoffnungslose Unterfangen, die eine Volksabstimmung nie überlebt hätten.
Aber sind diese 70 Franken pro Monat nicht einfach ein Tropfen auf den heissen Stein?
Rechsteiner: Ich hätte gern einen noch höheren Zuschlag gehabt. 100 Franken waren für mich zuerst das Minimum. Aber 70 Franken im Monat sind immerhin 840 Franken im Jahr. Bei den Ehepaaren beträgt der Zuschlag bis 2712 Franken im Jahr. Dieser Fixbetrag hat dabei den grossen Vorteil, dass er bei den tieferen Renten im Verhältnis höher ist, nämlich sechs Prozent. Das ist sehr sozial. Wer nur bei den Minimalrenten ansetzt, versteht nichts vom Rentensystem.
Warum?
Rechsteiner: Da geht es um Rentenexport: Kleinrenten, die grösstenteils ins Ausland gehen. Das nützt den Leuten nichts. Die lineare Erhöhung bringt – angesichts der knappen Mittel – am meisten für alle. Das kommt viel günstiger auch als eine Rentenaufbesserung in der zweiten Säule angesichts der Schwierigkeiten auf den Kapitalmärkten.
Trotzdem: Jeder Millionär bekommt diese 70 Franken auch. Das ist nicht sozial.
Rechsteiner: Die AHV ist eine Versicherung von allen für alle. Das ist ja gerade das Sensationelle an der AHV: Sie bezieht den Millionär mit ein. Die Rechnung geht auf. Über 84000 Franken Jahreseinkommen gibt es keine höhere Rente, der Einkommensmillionär zahlt aber x-mal mehr ein. Es ist die alte Formel von Bundesrat Tschudi: Der Reiche braucht die AHV nicht, aber die AHV braucht den Reichen.
Braucht die Rentenreform nicht ein solches Zückerchen, um im Volk eine realistische Chance zu haben?
Keller-Sutter: Das Volk braucht keine Zückerchen, sondern reinen Wein. Ziel war, das Leistungsniveau in beiden Säulen der Altersvorsorge zu sichern und auf eine stabile Finanzgrundlage zu stellen. Zudem sollte sie der gesellschaftlichen Entwicklung angepasst werden. Das wird mit dieser Vorlage so nicht erreicht.
Man will Leute mit tiefen Löhnen und Teilzeit-Arbeitende besser stellen.
Keller-Sutter: Ja. Aber auch diese Ziele haben wir mit der nun ausgearbeiteten Vorlage nicht erfüllt. Kompromisse wurden nicht gemacht, man hat sich von Anfang an festgebissen an diesem 70-Franken-Zuschlag für Neurentner. Die heutigen Rentner bekommen diesen Zuschlag nicht. Damit schaffen wir eine Zwei-Klassen-AHV.
Ist das aus Ihrer Sicht das Hauptproblem?
Keller-Sutter: Eines davon. Wir verschärfen auch das Problem der Finanzierung. Die Zahl der Rentner wird sich in den nächsten dreissig Jahren auf drei Millionen verdoppeln. Die Zeche bezahlen die Jungen, die Frauen und die heutigen Rentner, die den Ausbau über die Erhöhung der Mehrwertsteuer mitfinanzieren müssen. Ich muss Paul Rechsteiner zugutehalten, dass er ehrlich ist und zugibt, dass das jetzige Paket ein Rentenausbau ist. Aber das ist unverantwortbar und das Volk hat dies mit der AHV-plus-Initiative auch abgelehnt.
Rechsteiner: Es stimmt, diese Reform bringt für die Leute unter dem Strich ein leichtes Plus. Alle heute 43- bis 65-Jährigen würden vom Ausbau profitieren, weil sie bei den Pensionskassen von sinkenden Renten betroffen sind. Die Vorlage bringt auch eine Flexibilisierung des Rentenalters zwischen 62 und 70. Eine positive Modernisierung. All das schafft die Voraussetzung, dass diese Reform am Ende beim Volk überhaupt erfolgreich sein kann.
Keller-Sutter: Ja, aber es wird auch behauptet, dass die Frauen vom 70-Franken-Zuschlag bei der AHV profitieren werden. Die Linke sagt das jetzt, weil sie von den eigenen Frauen unter Druck geraten ist.
Rechsteiner: Der Rentenzuschlag kommt vor allem Frauen mit tieferen Einkommen zu gute. Als ich den Antrag für den Beibehalt des Frauenrentenalters 64 stellte, hat auch Karin Keller-Sutter nicht mitgemacht
Keller-Sutter: Natürlich nicht, ich bin für 65/65. Die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 64 Jahre bringt nun 1,2 Milliarden Franken. Der 70-Franken-Zuschlag, der nach dem Giesskannen-Prinzip verteilt wird, kostet 1,4 Milliarden Franken. Unter dem Strich lässt man also die Frauen ein Jahr länger arbeiten, um dieses Ausbauprojekt zu finanzieren. Wenn die 70 Franken wirklich für die Frauen wären, dann hätte man sie nur den Frauen geben sollen. Ich habe deshalb gezielte Massnahmen für Frauen und Tieflöhner vorgeschlagen.
Warum haben Sie das nicht so gemacht, Herr Rechsteiner?
Rechsteiner: Ich habe im Parlament versucht, etwas für die heutigen Rentnerinnen und Rentner zu tun. Ich hatte keinen Erfolg, auch Karin Keller-Sutter war dagegen. Auch wenn es für eine Verbesserung ihrer Renten nicht gereicht hat, haben wir doch eine Verschlechterung abwenden können. Die künftigen Rentner haben massive Nachteile in der 2. Säule, weil die Umwandlungssätze sinken. Darum erhalten sie als Kompensation diese 70 Franken mehr AHV. Und es stimmt einfach nicht, dass dieser Zuschlag von den Frauen finanziert wird. Die Erhöhung ist gesichert durch einen kleinen Zusatz im Promillebereich bei den Lohnabgaben.
Frau Keller-Suter, es ist doch eine Tatsache, dass die Umwandlungssätze sinken und dass die jetzigen Rentner daher bessergestellt sind.
Keller-Sutter: Die Absenkung des Umwandlungssatz betrifft nur 15 Prozent der heutigen Versicherten, die nicht im überobligatorischen Teil versichert sind. Darum handelt es sich hier um eine Ausbauvorlage. Das ist klar zulasten der jungen Generation. Wir werden bereits 2035 mit dieser Vorlage jährlich sechs Milliarden Defizit in der AHV haben. Das war nie die Meinung. In den letzten Jahren profitierte die AHV von der starken Zuwanderung von Gutverdienern. Jetzt wollen wir die Zuwanderung aber drosseln. Das wird auch die AHV spüren.
Wenn der Ständerat auf den 70 Franken beharrt, sagen Sie sich dann: Lieber keine Reform als diese?
Keller-Sutter: Natürlich wäre eine Reform jetzt wichtig. Aber sie muss die ursprünglichen Ziele wie Generationengerechtigkeit und eine sichere finanzielle Basis erfüllen. Wenn das nicht gewährleistet ist, ist es mir lieber, wir schnüren das Paket wieder auf. Ich bin nicht bereit, mit diesen 70 Franken die Zustimmung des Volkes zu kaufen. Ich zweifle zudem, dass das Volk einer solchen Vorlage zustimmt, welche die Gleichbehandlung aushebelt und eine Zweiklassen-AHV schafft.
Rechsteiner: Die Abbaurezepte haben nie funktioniert. Die Leute leben von AHV und Pensionskasse. Die Rechnung ist einfach: Wenn die Rente der Pensionskasse sinkt, dann muss die AHV steigen. Wir schaffen mit dieser Reform eine solide Grundlage für die nächsten 15 Jahre. Was danach kommt, werden wir sehen.