Vor zwei Jahren sorgte ein junger Mann mit einer Raubserie für Schlagzeilen. Gestern stand er dafür vor dem Bezirksgericht im thurgauischen Münchwilen.
Eigentlich gehe es ihr wieder gut, beantwortete die Frau gestern die entsprechende Frage des Gerichtspräsidenten. Aber wenn sie vermummte Menschen sehe, bekomme sie Angst. Darum sei gerade die jetzige Winterzeit, in der viele mit Kapuzen und Schals bekleidet sind, nicht einfach für sie. Die Frau war gestern eine von elf Privatklägern am Bezirksgericht Münchwilen.
Vor bald zwei Jahren, im Januar 2016, arbeitete sie spätabends in einem Tankstellenshop in Bronschhofen. Dabei wurde sie Opfer des heute 22-jährigen Schweizers, der sich gestern als Angeklagter vor Gericht verantworten musste. In der besagten Nacht überfiel er die Tankstelle mit einer sogenannten Soft-air Gun, einer täuschend echten Waffenattrappe. Drei Stangen Zigaretten und 600 Franken Bargeld waren die Beute.
Die 600 Franken waren indes nicht die kleinste Beute aus den zahlreichen Überfällen, welche der Angeklagte zwischen August 2015 und Februar 2016 begangen hatte. Am Tag des Raubüberfalles auf den Bronschhofener Tankstellenshop ging der Mann nur sechs Stunden zuvor in Frauenfeld leer aus: Um 16 Uhr nachmittags waren die Kassen der Kontaktbar «Big Apple» an der St. Gallerstrasse noch leer. Einen spektakulären Polizeieinsatz löste der Wängemer damals dennoch aus. Weil nicht klar war, ob sich der Mann noch im Etablissement befindet, sperrte die Kantonspolizei Thurgau während eineinhalb Stunden die Strasse, eine Spezialeinheit durchsuchte das ganze Gebäude.
Seine Soft-air Gun hatte der Angeklagte auch bei seinen weiteren Überfällen dabei, auf Tankstellenshops in Wilen und Aadorf sowie auf die Post in Islikon. Seine rabiatere Seite zeigte der Angeklagte, wenn er in Begleitung zweier Komplizen war. So brach er, ebenfalls im Januar 2016, in Islikon einem zufällig ausgesuchten Passanten das Nasenbein für 20 Franken und ein Smartphone. In derselben Nacht fügte er in Frauenfeld einer Taxifahrerin eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung zu – für 1700 Franken.
Bei zwei weiteren Überfällen scheiterten der Angeklagte und seine Mittäter: In Wängi liessen sie sich vom bellenden Hund eines Drogenhändlers in die Flucht schlagen, in Frauenfeld konnte sich ein Passant erfolgreich mit seinem Regenschirm verteidigen. Vor allem aber führte der Ankläger die zwei Jahre Gefängnis ins Feld, die der Angeklagte im vergangenen Sommer vom St. Galler Kantonsgericht für ähnliche Verbrechen kassiert hatte. «Die Delikte im Thurgau hat der Angeklagte begangen, als das Verfahren in St. Gallen bereits lief», sagte der Staatsanwalt und forderte weitere sieben Jahre Gefängnis.
Wahrscheinlich aber muss der Angeklagte die Haftstrafe gar nicht absitzen. Befindet er sich doch seit über einem Jahr in einem Massnahmezentrum für junge Erwachsene. Im August hat er dort eine Lehre als Automechaniker begonnen. Dies sei der richtige Ort für ihn, sagte er gestern, dort werde er gut betreut. In der Gewerbeschule habe er bis jetzt nur gute Noten, eine Stunde pro Woche bespreche er mit einer Psychologin seine Delikte und seine frühere Drogensucht. Vor allem aber hätten ihm die 176 Tage Untersuchungshaft zugesetzt. «Ich habe seither kein Bedürfnis mehr nach meinem alten Leben», sagte er – und entschuldigte sich wiederholt bei den anwesenden Opfern.
Anklage und Verteidigung waren sich denn auch einig, dass eine Haftstrafe – der Verteidiger forderte fünf Jahre – auszusetzen sei, und der Angeklagte stattdessen im Massnahmenzentrum seine Lehre beenden soll. Das Bezirksgericht Münchwilen wird sein Urteil später schriftlich bekannt geben.
Olaf Kühne
olaf.kuehne@thurgauerzeitung.ch