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Ostschweiz
Alle wollen das Baby halten. Das war gestern. Das Coronavirus lässt kindliche Charmeoffensiven ins Leere laufen.
Nein. Das Wörtchen bereitet meinem Töchterlein derzeit mehr Freude als der Schnee, der dieser Tage wieder von den Bäumen tropfte. Besonders auf die Frage, ob sie ins Bett gehen möchte, erwidert sie es in Dauerschleife. «Nai, nai, nai, nai, nai.» Dabei schüttelt sie grazil ihr 14 Monate altes Köpfchen. Nicht als Ausdruck einer trotzigen Weigerung, eher in dankbarer, leicht überheblicher Ablehnung. Als wollte sie sagen: «Nett, dass du fragst, aber ich hege zurzeit andere Absichten.»
Seit sie Nein sagen kann, macht es unserer Tochter besonderen Spass, Erwachsene abzuweisen. «Willst du mal zu Onkel Fridolin gehen?» – «Nai, nai, nai» – «Zu Tante Olga?» – «Nai» – «Zu Fritz? Zu Vreni?» – «Nai, nai, nai, nai, nai.» Es ist ein Spiel. Zuerst verzaubert sie das Gegenüber mit einem gletscherschmelzenden Babylächeln, dann reckt sie die Hände in seine Richtung – und schliesslich dreht sich mit süffisanten Kopfschütteln ab. Diese Koketterie bereitet der Kleinen grosses Vergnügen.
Doch die Pandemie hat es ihr genommen. Onkel Fridolin nimmt das Mädchen sicherheitshalber nicht mehr auf den Arm. Tante Olga ist verunsichert, wenn sich die Patschehändchen nach ihr ausstrecken. Und Fritz und Vreni haben wir schon seit Wochen nicht gesehen. Das Lungenvirus hat die Welt unserer Tochter entzaubert. Auf einmal scheint Corona wichtiger als sie. Wie öde, wenn man keine babyversessenen Erwachsenen mehr ablehnen kann.
Dafür ergeben sich neue Formen des Zusammenseins. Im Wald zum Beispiel. Wegen Sehnsucht nach Freiraum und Frischluft war am Samstag in St.Gallens Umland jede Feuerstelle belegt, alle zwanzig Meter grillierte ein Grüppchen, der Wald voller Kindergeschrei.
Dennoch blieb Interaktion selten. Nur einmal wagte ich mich in die Nähe der Grillnachbarn, um zu fragen: «Dürfte ich Ihr Taschenmesser ausleihen? Ich habe frisch desinfizierte Hände.» Unsere Tochter freundete sich derweil mit einem Tannzapfen an. «Willst du den behalten?», fragte ich beim Aufbruch. Und da war sie wieder: die schelmische Freude an der Ablehnung. «Nai, nai, nai.» Als gäbe es keine Pandemie.
Adrian Lemmenmeier ist seit 14 Monaten Vater einer Tochter. Er wohnt mit seiner Familie in St.Gallen.