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Ostschweiz
Darf man Kinder zwingen, auch das Gemüse aufzuessen?
Einige Pädagogen finden das verwerflich. Doch die Erfahrung
im Alltag lehrt etwas anderes.
Diese Woche feierte ich einen Erfolg in der Küche. Mein mit Pilzen und Käse überbackener Spargel-Gratin fand reissenden Absatz. Am Schluss verlangten die Kinder sogar noch Brot, um die in der Gratin-Form übrig gebliebene Sauce aufzutunken.
Mag sein, dass es an der üppigen Portion Crème fraîche lag, die Annemarie Wildeisen, nach deren Rezept ich kochte, bei fast jedem Gericht empfiehlt. Mag sein, dass das Mittagessen schon zu lange zurücklag und der knurrende Magen eine allfällige Protestnote («Papa, schon wieder ein Auflauf mit Gemüse! Können wir nicht etwas Normales essen?») beim Abendessen im Keim erstickte.
Wir beharrten bei unseren Söhnen, auch als sie noch sehr klein waren, stets darauf, dass sie nur dann ein Dessert erhalten, wenn sie auch «gesundes Gemüse» essen – oder zumindest einen Teil davon. Ob es nicht auch eine Option wäre, sich nur dem Fleisch und den Bratkartoffeln zuzuwenden und den Brokkoli übrig zu lassen – solche Diskussionen gibt es bei uns am Familientisch kaum mehr.
Als Eltern feiern wir das, vielleicht in einem Anflug von natürlicher Verblendung, als Erfolg der eigenen Erziehung. Und prosten uns schulterklopfend zu. Doch liegen wir damit auch richtig?
Denn gut möglich, dass die Retourkutsche später kommt. Und die Kinder in einer Art Befreiung von elterlichen Anordnungen nur noch zwischen McDonalds und Burger King pendeln, wenn sie 16 Jahre alt sind. Um nachzuholen, was ihnen in der Kindheit verwehrt blieb.
Einer zumindest, der uns solches prophezeit, ist der amerikanische Psychologe Alfie Kohn. Er sagt, das Aufessen des Gemüses zur Bedingung fürs Dessert zu machen, sei eine ganz schlechte Idee, weil es schlicht nicht funktioniere. Solche Belohnungs- und Bestrafungsaktionen seien in der Erziehung verwerflich. Das Kind werde das Gemüse bald noch weniger mögen und man beschädige als Eltern so auch nachhaltig die Beziehung zum Kind. Seine Begründung: Solche «destruktiven Hundeleckerli» vermittelten den Kindern das Gefühl, dass sie nur geliebt werden, für das, was sie tun und nicht, für das, was sie sind.
Kohns Ideen mögen in der Theorie schlüssig sein, an der täglichen Erfahrung aber zerschellen sie. Und zwar nicht nur darum, weil mein Spargel-Gratin diese Woche reissenden Absatz fand.
Wer sich als Eltern von Kleinkindern auf stetige Diskussionen einlässt und nicht auch mal einen Befehl ausspricht oder Konsequenzen androht, kommt nirgendwo hin und tut vor allem niemandem einen Gefallen. Schon gar nicht den Kindern selber.
Regeln und klare Strukturen geben ihnen – verbunden mit elterlicher Zuneigung – auch Halt und eine sichere Basis. Das erhöht wohl auch die Frustrationstoleranz und die psychische Widerstandsfähigkeit, wenn mal im Erwachsenen-Leben nicht alles nach Plan und nach den eigenen Wünschen läuft. Die elterliche Liebe wird nicht kleiner, wenn man darauf beharrt, dass es mal nur dann eine Gutenacht-Geschichte gibt, wenn es beim Zähneputzen zügig vorwärts geht.
Und dieser Punkt führt jetzt direkt zur Corona-Krise. Vom psychologischen Ablauf her ist da in den letzten Wochen nämlich etwas sehr Ähnliches passiert wie in der Erziehung von Kindern. Der Bundesrat, allen voran Gesundheitsminister Alain Berset, schlüpfte in die Papa-Rolle, der uns klare Anweisungen gab und mit dem Zeigefinger drohte: «Wenn ihr über Ostern nicht brav zu Hause bleibt, hat das möglicherweise gravierende Konsequenzen.»
Und später verteilte er auch Hundeleckerli: «Bravo, ihr habt euch weitgehend an unsere Empfehlungen gehalten. Wir können die Vorschriften bald wieder lockern.» Es hat gewirkt.
Einer, der diese Landesvater-Rolle in dieser Krisenzeit fast verinnerlicht hat, ist der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Fast täglich lobt er an Pressekonferenzen oder über Twitter «das weise, disziplinierte und verantwortungsvolle Verhalten der Österreicherinnen und Österreicher». Und streichelt ihnen mit solchen Aussagen über den Kopf.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich sehne mich schon richtiggehend nach einer Berset-freien Zeit, sollte die Corona-Krise bald mal überstanden sein. Nicht weil ich finde, der Gesundheitsminister mache einen schlechten Job. Ganz im Gegenteil.
Ich will nur nicht, dass mir in einer fast täglichen Ansprache jemand sagt, was ich zu tun und zu lassen habe und wir fast schon auf den Knien bitten müssen, um so etwas simples und in normalen Zeiten Selbstverständliches zu tun wie Tennis zu spielen.
Vielleicht hat Alfie Kohn hier einen Punkt. Und den Kindern geht es bei den elterlichen Anordnungen, die das selbstbestimmte Leben einschränken, auch was das Essen betrifft, ähnlich. Er sagt. «Bei Belohnungen, auch bei Lob, handelt es sich um etwas, das Leute mit mehr Macht Leuten mit weniger Macht geben.»
Sicher ist für mich in diesen verrückten Zeiten, wo unser alltägliches Leben ziemlich auf den Kopf gestellt wird, sowieso nur eine Sache: Diesen leckeren Gratin à la Annemarie Wildeisen werde ich spätestens in der nächsten Spargel-Saison wieder in den Ofen schieben. Mit viel Crème fraîche und noch mehr Käse überbacken.
Jürg Ackermann lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen (8 und 6) in St.Gallen.