Das Ostschweizer Pflegepersonal warnt: Der Personalmangel gefährde die Patienten. Es machte sich am Mittwoch für die 2017 eingereichte Pflege-Initiative stark.
«Wer pflegt mich im Jahr 2030?», fragen sich am Hauptbahnhof St. Gallen rund 50 Patientinnen und Patienten im Spitalnachthemd. Die Antwort von Anna Sulser stimmt wenig zuversichtlich: «Ich weiss es nicht», sagt sie. Wie ihre verkleideten Kolleginnen arbeitet Sulser in der Pflege, in der Psychiatrie Wil. Im Mai wird sie zwar das Studium zur diplomierten Pflegefachfrau abschliessen, ob sie lange auf diesem Beruf arbeitet, ist aber fraglich.
Der Druck am Arbeitsplatz ist hoch, die Löhne tief, und die Statistik spricht ebenfalls dagegen: «Sieben Jahre nach dem Abschluss als diplomierte Pflegefachfrau sind 46 Prozent bereits wieder ausgestiegen», sagt Barbara Dätwyler Weber. Sie ist Präsidentin der Ostschweizer Sektion des Schweizerischen Berufsverbandes der Pflegefachpersonen SBK und hat die Kundgebung mitorganisiert.
Vor genau einem Jahr hat der Verband die Initiative «Für eine starke Pflege» eingereicht, jetzt wartet man auf die bundesrätliche Botschaft dazu. Noch während der Kundgebung kommt das Telefonat aus der Zentrale. Der Bundesrat lehne die Anliegen der Pflegeinitiative auf der ganzen Linie ab und spreche sich auch nicht für eigene Massnahmen aus. Die Initiative verlangte die Förderung der Ausbildung, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Löhne und eine Liste jener Pflegeleistungen, die auch ohne ärztliche Anweisung verrechnet werden können. «Eine Sauerei», sagt Barbara Dätwyler und ihre Kolleginnen buhen.
Die Bevölkerung sah die Dringlichkeit ähnlich und unterzeichnete die Initiative in Rekordgeschwindigkeit. Innert acht Monaten kamen 120000 Unterschriften zusammen. Die Zahlen machen Angst: Heute schon fehlen im Pflegebereich 11000 Personen, darunter 6500 Pflegefachleute. Personal mit jenem Diplom also, das Sulser gerade an der Höheren Fachschule abschliesst.
Für sie ist es, wie für die meisten, eine Zweitausbildung, während der sie sich noch einmal mit einem Lehrlingslohn begnügen muss. Es gäbe bessere Lösungen, auch auf kantonaler Ebene, erklärt Barbara Dätwyler: «Im Thurgau gibt es beispielsweise ein Projekt, bei dem sich Kanton und Ausbildungsbetriebe an Förderbeiträgen für Studierende beteiligen.» Damit könne der Ausbildungslohn für Studierende von durchschnittlich 1000 Franken auf 3000 Franken erhöht werden.
Im Kanton St. Gallen haben nur einzelne Betriebe selbstständig den Ausbildungslohn erhöht. Wer in den letzten Jahren im Spital war, spüre, dass dringende Massnahmen nötig seien, ist von Passantinnen und Passanten am Rande der Kundgebung zu hören. Bis es so weit ist, nehmen sie die Mullbinden in Empfang, die von den Pflegerinnen verteilt werden – vielleicht, um sich im Notfall selbst verarzten zu können.