Das St. Galler Start-up Advertima baut Software, die lernt. Auch die Organisation selber soll lernen: Die Teams entscheiden das meiste selber. Denn Hierarchien verlangsamen den Betrieb, meint der Gründer.
Kaspar Enz
kaspar.enz@ostschweiz-am-sonntag.ch
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Iman Nahvi ist ein serieller Jungunternehmer. Einst möbelte er das Taxiunternehmen seines Vaters zum umweltfreundlichen "Taxi Frosch" auf. Jetzt ist er CEO der Advertima, laut WorldWeb-Forum das coolste Start-up der Schweiz. "Ich bin seit 2010 selbstständig", sagt Nahvi. Hier hat er etwas Neues gelernt: "Fresse halten und zuhören." Und die andern machen lassen mit dem Unternehmen, das er vor zwei Jahren gründete. Denn beim IT-Unternehmen regiert die Holokratie.
Und die hat keinen Chef. Hierarchien sind nur hinderlich, glaubt Nahvi. Um eine Entscheidung zu treffen, einen Vorschlag einzubringen, muss der Chef gefragt werden, der wieder einen über sich hat. Es vergeht Zeit, bis solche Strukturen einen Entschluss fassen. Zeit, die man nicht mehr hat. "Die Welt ist schneller geworden. Man muss eine Organisation so aufbauen, dass es ohne die Entscheidungen von Chefs geht."
Iman Nahvi ist bei Advertima zwar CEO, ein Topmanager-Titel wie ihn jedoch auch der Rest des Gründerteams trägt. "Gegen aussen werde ich so ernst genommen." Intern ist der CEO nur eine von drei Rollen Nahvis: Strategie und Vision. Mit dieser Aufgabe sitzt er in Teamsitzungen, bringt Bedenken vor und Vorschläge ein – wie die anderen auch. "Und ich werde immer wieder überstimmt." Aber die Holokratie ist keine Demokratie. Vielmehr entscheiden die Mitarbeiter oder Abteilungen möglichst alles autonom. Nur: Statt Abteilungen gibt es "Circles", Kreise, und die Mitarbeiter haben Rollen statt Funktionen und Rangordnungen. "Wenn ein Mitarbeiter glaubt, etwas müsse anders laufen, das nur seine Rolle betrifft, darf er das veranlassen", erklärt Nahvi. "Geht es andere Rollen eines "Circles" an, müssen die übrigen Teammitglieder beweisen, dass sein Vorschlag schlecht ist. Können sie das nicht, wird sein Vorschlag umgesetzt."
Das verlangt Vertrauen in die Mitarbeitenden. "Wir haben nur Spezialisten bei uns", sagt Nahvi. Leute, die ihr Gebiet beherrschen. Bei Advertima müssen sie aber auch Manager sein. "Manager kümmern sich um Organisationsfragen. Bei uns müssen sich alle Mitarbeiter damit auseinandersetzen." Und weil die Mitarbeitenden auch mitreden können, täten sie das auch.
Das funktioniert nur mit klaren Regeln. Eine Vorlage dafür liefert das Buch des amerikanischen Unternehmers Brian Robertson, des Erfinders dieser Firmenstaatsform. Und vieles, was sonst in den Köpfen von Gründern und Chefs bleibt, müssen in der Holokratie alle wissen. Advertima war nicht das erste Start-up, an dem Nahvi mitwirkte. Aber "zum ersten Mal hab ich formell die Strategie aufgeschrieben". Denn jeder muss jetzt wissen, wohin die Reise geht.
Ob diese Reise immer holokratisch weitergehen wird, weiss Nahvi noch nicht. Aber er ist optimistisch. Nachteile dieser Organisation hätten sich am Anfang gezeigt. "Sitzungen der "Circles" dauerten manchmal zwei Stunden." Aber unterdessen hätten sich die Regeln eingespielt. Jetzt seien es manchmal auch nur zehn Minuten.
Die Regeln der Vorlage wurden teilweise angepasst, und immer wieder auch die Struktur, um dem Wachstum von vier auf 40 Mitarbeitende Rechnung zu tragen. Eine Änderung könnte aber bald anstehen. Bisher verdienten alle Mitarbeitenden gleich viel. "Das gehört eigentlich nicht zur Holokratie", sagt Nahvi. "Aber es macht klar: Es geht nicht um Aufstieg und wer wie viel verdient." Doch die Advertima wächst, das Start-up braucht jetzt ein richtiges Verkaufsteam. "Und Verkäufer brauchen eine gewisse Motivation von aussen."
In der Holokratie entscheiden Mitarbeitende und Teams, so genannte Kreise, möglichst autonom darüber, wie sie ihre Aufgaben erfüllen – so soll eine Organisation geschaffen werden, die sich andauernd wandelt und verbessert. So zumindest lautet die Theorie. Das St. Galler Start-up Advertima ist nicht das einzige Schweizer Unternehmen, das in den letzten Jahren diese Organisationsform eingeführt hat. Das Westschweizer Internet-Unternehmen Liip, das auch einen Ableger in St. Gallen hat, führte sie ebenso ein wie einzelne Abteilungen der Swisscom oder die Zürcher Taschenmarke Freitag. Nicht immer aber führt die Einführung der Holokratie zum Erfolg. Das grösste Experiment mit dieser Organisationsform startete Tony Hsieh, Chef des amerikanischen Online-Schuhändlers Zappos, im Jahr 2015. Beim Unternehmen mit 1500 Mitarbeitenden wurden alle Management-Positionen abgeschafft. Zu viel für einige Mitarbeitende: Rund ein Drittel verliess im Zuge der Neuorganisation das Unternehmen – ein Aderlass, der das Unternehmen nachhaltig schwächte. Während Holokratie auf den ersten Blick mehr Freiheit verspricht, wird sie in der Praxis oft als rigide oder bürokratisch erlebt – eine Folge davon, dass das Wegfallen von Hierarchien mit Regeln aufgefangen wird. Auch mache die strikte Trennung von Person und Rolle das System kalt und unpersönlich. Das ging beispielsweise aus einer Mitarbeiterbefragung bei Liip hervor, wie Mitgründer Gerhard Andrey kürzlich in einem Fachartikel schrieb. (ken)