Nachruf: Ein hervorragender Botschafter des Judentums in der Ostschweiz

Von 1968 bis 2012 stand Rabbiner Hermann Schmelzer der Jüdischen Gemeinde St. Gallen als geistliches Oberhaupt vor. Er war ein kritischer Denker, der die Entwicklung der Gesellschaft und des Judentums nicht kritiklos hinnahm.

Roland Richter
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Rabbiner Hermann Schmelzer (1932–2020).

Rabbiner Hermann Schmelzer (1932–2020).

Bild: Urs Bucher

Die Jüdische Gemeinde St. Gallen betrauert zusammen mit den Angehörigen, der Universität und Repräsentanten des öffentlichen Lebens den Hinschied von Rabbiner Hermann I. Schmelzer. Von 1968 bis 2012 stand Schmelzer der jüdischen Gemeinde als geistliches Oberhaupt vor. In Ungarn geboren und dem Holocaust knapp entronnen, trat er 1968 nach beschwerlichen Lehr- und Wanderjahren, die ihn nach Budapest, Paris, Stockholm, London und Malmö führten, seine Lebensstelle in St. Gallen an.

Mit Rabbiner Schmelzer hatte die jüdische Gemeinde einen hervorragenden Botschafter des Judentums in der Ostschweiz, eine Sendung, die ihm über zwei Generationen hindurch ein wesentliches Anliegen war. Bald wurde erkannt, dass er nicht dem Typus des in seine Bücher versunkenen Talmud-Thora-Gelehrten entsprach, sondern mit beiden Beinen im Leben stand und in jüngeren Jahren auch auf der Finnenbahn anzutreffen war.

Ein gesuchter Gesprächspartner mit feinem Schalk

Ungezählten Schulklassen, Vereinen, Betrieben und behördlichen Mitarbeitern hat er anlässlich von Führungen in der Synagoge und von Vorträgen auf dem Lande das Wesen des Judentums nahegebracht. Durch seine Lehrtätigkeit an der Universität verschaffte er sich Anerkennung im Dozentenkollegium und vielen Amtsträgern wurde er zum gesuchten Gesprächspartner. Bei den christlichen Kirchen erfreute er sich wohlwollenden Respekts; so schätzte der vormalige Bischof Ivo Fürer das informelle Gespräch mit Rabbiner Schmelzer ausserordentlich. Und dass Schmelzer anlässlich der Neuausgabe der evangelischen Zürcher Bibel in deren Redaktionsstab, zuständig für jüdische Belange, berufen wurde, wäre ohne sein Augenmass hinsichtlich des jüdisch-christlichen Verhältnisses nicht möglich gewesen.

Über Jahrzehnte hindurch war die Jugend von Schmelzer fasziniert. Studentinnen und Studenten der Universität hat er immer wieder in seinen Bann gezogen. Seine Art des Dialogs auf Augenhöhe fand Anklang und in sachbezogenen Reden blitzte immer wieder sein feiner Schalk hervor. Zugleich war Hermann Schmelzer ein kritischer Denker, der die Entwicklung der Gesellschaft und des Judentums auch in der eigenen Gemeinde nicht kritiklos hinnahm. Dabei hatte er oft das bessere Argument auf seiner Seite. Der Dialog mit dem Christentum und dem Islam war ihm ein Herzensanliegen, nicht ohne die eigene Position jedoch deutlich darzustellen.

Seelsorger und Dozent an der HSG

Im Jahre 2012 beendete Hermann Schmelzer sein Amt als dienstältester Schweizer Rabbiner. In St. Gallen hatte er nicht nur die Gemeinde erfolgreich geführt, sondern zudem ein immenses Werk im Bereich des Judentums und des interreligiösen Dialogs geschaffen. Den Lehrauftrag an der Hochschule St. Gallen über die verschiedensten Aspekte der Religionsgeschichte und für die hebräische Sprache hatte er bis 2009 inne. Er diente der Universität ausserdem als Studentenseelsorger.

Sein wacher Geist blieb Schmelzer bis zuletzt erhalten. Er beobachtete, überlegte, notierte auf Zetteln, die er immer auf sich trug, und kommentierte. Und es zog ihn hinaus in die Natur. Im vergangenen Sommer noch konnte man ihm in leichter Wanderausrüstung samt Rucksack und Fernglas begegnen; und sogleich teilte er jeweils seine Gedanken mit. Gerne empfahl er kontroverse Bücher und freute sich auf die anschliessende Diskussion darüber. Zum letzten dieser Literaturgespräche ist es nicht mehr gekommen.

Hermann Schmelzer hinterlässt Ehefrau und Sohn. Ihnen sowie den weiteren Angehörigen gebührt das tief empfundene Beileid.

Nachruf von Roland Richter, ehemaliger Präsident der Jüdischen Gemeinde St. Gallen.

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