FEMINISTIN: Die "Mörderin" erkämpfte sich den Richterstuhl

1972 schaffte Margrith Bigler-Eggenberger trotz massiver Anfeindungen die Wahl zur ersten Bundesrichterin des Landes. Damals wurde sie als "Mörderin" beschimpft - weil sie sich öffentlich für den straffreien Schwangerschaftsabbruch ausgesprochen hatte.

Nina Fargahi
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Margrith Bigler-Eggenberger zu Hause in St. Gallen. (Bild: Benjamin Manser)

Margrith Bigler-Eggenberger zu Hause in St. Gallen. (Bild: Benjamin Manser)

Nina Fargahi

Es waren entscheidende Jahre für die Gleichstellung von Frau und Mann in der Schweiz, als Margrith Bigler-Eggenberger für die SP ins höchste Gremium der Schweizerischen Rechtsprechung gewählt wurde. «Sehr knapp gewählt», sagt sie und lächelt verschmitzt. Wahrscheinlich hatten sich die ihr feindlich gesinnten männlichen Kollegen – von denen es einige gab – mehr über die Knappheit des Resultats geärgert, als wenn es eindeutig ausgefallen wäre.

Margrith Bigler-Eggenberger. Erste Bundesrichterin der Schweiz, eine Vorkämpferin für die Sache der Frauen, eine Intellektuelle. Zu früh geboren, um mit 20 Jahren stimmen und wählen zu können; zu früh geheiratet, um ihren Namen und das Bürgerrecht behalten zu können. Doch hatte sie die Möglichkeit, als eine von wenigen Frauen an der Universität Zürich Rechtswissenschaft zu studieren – und wie sie eben ist, packte sie diese Gelegenheit.

Ein Unbekannter manipulierte ihren Lebenslauf

Sie sitzt entspannt in einem Lesesessel in ihrer hellen Wohnung in St. Gallen, umgeben von Büchern und Bildern. Die 84-Jährige sieht fit aus, trägt ein schlichtes Kleid. Ihre Worte wählt sie mit Bedacht: Bigler-Eggenbergers Erinnerungen sind so präzise wie ihre Sprache. Sie musste sich wohl immer sehr genau überlegen, was sie sagte und wie sie etwas formulierte – zu viele Kritiker hofften, sie würde Fehler begehen. «Ich stand stets unter Beobachtung.»

Schon vor ihrer Wahl habe sich «plötzlich eine Gegnerschaft von Männern» gebildet, die sie gar nicht kannte und die ihr das Leben schwer machte. So manipulierte ein Unbekannter ihren Lebenslauf und strich alle juristischen Tätigkeiten raus, etwa die Dozentur an der HSG, ihre Arbeit am Gericht in Solothurn oder am Bieler Amtsgericht. «Man wollte den Anschein einer inkompetenten Frau erwecken.» Sie schüttelt den Kopf ob dieser Erinnerung. Trotzdem wurde die St. Gallerin 1972, ein Jahr nach Einführung des Frauenstimmrechts, von der Vereinigten Bundesversammlung zur Ersatzrichterin ans Bundesgericht und zwei Jahre später zur ordentlichen Bundesrichterin gewählt.

«Kaum haben die Frauen das Stimmrecht, wollen sie zuoberst mitmachen», sollen einige ihrem Entsetzen Luft gemacht haben. Auch die Presse hetzte gegen sie: «Eine Mörderin ins Bundesgericht», titelte die Zeitung «Die Ostschweiz», weil sich Bigler-Eggenberger in öffentlichen Vorträgen positiv gegenüber dem straffreien Schwangerschaftsabbruch geäussert hatte. «Dieser Artikel hat mich sehr getroffen.»

Ihr Antrieb ist der Glaube an eine gerechtere Welt

Bigler-Eggenberger wächst in einer Zeit auf, in der Vater und Brüder ab 20 Jahren wichtige Rechte, und auch alle Berufe, die sie nur wollen, ausüben können; Mädchen und Frauen dürfen nicht einmal als Begleitung ins Stimmlokal, um zu sehen, was dort los ist. «Und das nur, weil wir dem falschen Geschlecht angehören, das wir uns ja nicht ausgesucht haben.» Sie wächst in Uzwil in einer politischen Familie auf. Ihre Mutter baut die sozialdemokratische Frauengruppe auf und wird deren Präsidentin. Ihr Vater ist National- und Ständerat für die SP. Zu Hause habe man über die Armut in Uzwil gesprochen, über die tiefen Löhne der Giessereiarbeiter oder deren Alkoholprobleme. Die Türen seien stets offen gestanden, Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland seien ein- und ausgegangen.

Als erste Frau im Bundesgericht hatte sie mit viel Gegenwind zu kämpfen. Männliche Kollegen schnitten sie, immer wieder wurde ihr vorgeworfen, politisch zu urteilen. Gezielt wurden Boshaftigkeiten gestreut. Ihr Büro habe sie nicht neu einrichten dürfen, weil die männlichen Kollegen glaubten, sie würde es ohnehin nicht lange aushalten. Gerne hätte sie in der Staats- und Verwaltungsrechtlichen Abteilung gearbeitet, wo sie als Ersatzrichterin schon tätig war, aber: «Ich musste dorthin gehen, wo Frauen hingehören, nämlich ins Familienrecht.» Dies sei ohne ihre Mitwirkung von der Gerichtsleitung bestimmt worden. Aber auch im Familienrecht habe sie Akzente setzen können und spannende Fälle gehabt. Zum Beispiel, als Robert Eibel, ehemaliger FDP-Nationalrat, 1985 gegen die Verfasser des Buchs «Die unheimlichen Patrioten» wegen Persönlichkeitsverletzung klagte. Die Autoren hatten Eibels hitlerfreundliche Haltung thematisiert. «Die Gerichtsverhandlung war sehr emotionsreich», erinnert sich Bigler-Eggenberger. Die Autoren wurden freigesprochen.

Ja, Bigler-Eggenbergers sanfte Art sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie knallharte Urteile zu fällen wusste. Eine «Mission» habe sie nie gehabt – diese Frage finde sie immer etwas verwirrlich. Ihre Antriebsfeder sei einfach stets der Glaube an eine gerechtere Welt gewesen. «Eine sehende Justitia ist gewünscht», schreibt sie 2003 in ihrem Buch zum Gleichstellungsartikel der Bundesverfassung. Eine Justitia, die die Augen vor der Wirklichkeit der Frauen und Männer nicht mit einer Binde verschliesse. Denn, so Bigler-Eggenberger, obwohl vieles auf dem Gebiet der Gleichstellung erreicht sei, bleibe vieles ungerecht. Am Schluss des Buches schreibt sie: «Vielleicht liesse sich sogar in weiter Auslegung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes vermehrt der Satz ‹in dubio pro femina› anwenden.»

Bigler-Eggenberger ist bekennende Feministin. «Ich bin stolz darauf, Feministin zu sein und es immer gewesen zu sein», sagt sie. Der Begriff bedeute doch einfach, für die Rechte von Frauen in allen ihren Lebenslagen einzutreten oder zu unterstützen. «Wir gehen mit dem Feminismus viel zu schüchtern um.» Den heutigen jungen Frauen rät sie, eine gute Ausbildung zu machen, stets und überall für sich einzustehen und ein unabhängiges Leben anzustreben.

Das Telefon läutet, der Klingelton ist Beethovens «Für Elise». Als ihr Mann starb, habe sie sich als kleinen Trost ein Klavier gekauft. Wenn sie darauf spiele, denke sie an ihn. Kurt Bigler war ein Holocaust-Überlebender und kam als jüdischer Flüchtling in die Schweiz. Viele Fotos in Bigler-Eggenbergers Wohnung erinnern an ihn. Noch auf dem Sterbebett habe er Beethovens «Ode an die Freude» gesungen. Nach seinem Tod im Jahr 2007 gründete Bigler-Eggenberger eine Stiftung, die Arbeiten und Projekte fördert, die sich mit dem Holocaust befassen. Die Stiftung sei der Wunsch ihres Mannes gewesen, der Zeit seines Lebens unter diesem Trauma gelitten habe.

Sorgen um die politische Kultur

Bigler-Eggenberger wird nachdenklich, wenn sie darüber spricht. Die politische Kultur in einem Land könne so schnell kippen. «Manchmal mache ich mir Sorgen um unsere Errungenschaften.» Man müsse auf die mühsam erkämpften verfassungsmässigen Rechte Acht geben und den Institutionen Sorge tragen.

Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gehöre zu den wertvollen Errungenschaften langer Kämpfe. Sie erinnert daran, dass das Frauenstimmrecht eng mit dem Beitritt der Schweiz zur EMRK verknüpft war. Denn die Schweiz hätte ein Problem mit den Menschenrechten gehabt: Sie gelten für Menschen, nicht nur für Männer. Der Bundesrat wollte deshalb ursprünglich die EMRK mit einem Vorbehalt unterzeichnen, denn die Schweizerinnen hatten damals kein Wahlrecht. «Die offizielle Schweiz musste sich international schämen, dass sie neben Vaduz und einigen Unrechtstaaten ihren volljährigen Bürgerinnen das Stimm- und Wahlrecht vorenthielt.» Aufgrund von Protesten der Frauenverbände kam 1971 die Vorlage über das Frauenstimmrecht vor das Männervolk.

Aber eben, was einst erkämpft, muss stetig verteidigt werden. Ihr wird mulmig zumute, wenn sie auf die Selbstbestimmungs-Initiative der SVP zu sprechen kommt: Rechte Kreise schürten das Misstrauen gegenüber Ämtern und Behörden, das erinnere sie an Deutschland, Italien, aber auch an die Schweiz in den Dreissigerjahren. «Mit der Beseitigung der Geltung der Menschenrechtskonvention würden wir wieder zur Bananenrepublik.»