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Die ehemalige Präsidentin der Evangelischen Kirchgemeinde plant, nochmals für ihr ehemaliges Amt zu kandidieren.
Anfang Dezember wurden Sie ins «Who is Who» der TZ gewählt. Wie ist es für Sie, zu den hundert wichtigsten Thurgauerinnen und Thurgauern zu gehören?
Susanne Dschulnigg: Als ich die Einladung für die Feier geöffnet habe, wäre ich fast vom Stuhl gefallen. Ich hätte das nie erwartet.
Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Nach wie vor verstehe ich nicht ganz, warum ich ausgewählt wurde. Es freut mich indes, dass mein Porträt in der Rubrik «Originale» gleich neben dem von Margrith Pfister-Kübler platziert wurde. Sie ist für mich eine Powerfrau, die ich sehr schätze und gerne immer wieder treffe.
Dann finden Sie nicht, dass Sie im letzten Jahr durch Ihr Engagement aufgefallen sind?
Es ist schon eher unüblich, dass sich eine 70-jährige Rentnerin und ehemalige Präsidentin noch in aktuelle Geschäfte einmischt. Eigentlich sollte ja die jüngere Generation am Ruder sein. Als frühere Präsidentin der Evangelischen Kirchgemeinde Kreuzlingen war ich jedoch hin- und hergerissen, als es um den sehr teuren Umbau und die Sanierung des Kirchgemeindehauses ging. Aber es war richtig, dass ich das Projekt bekämpft habe.
Damit ist es nicht getan: Sie haben kürzlich angekündigt, bei den kommenden Wahlen wieder als Präsidentin der Kirchgemeinde zu kandidieren. Was hat Sie dazu bewogen?
Ja, ich kann es nicht lassen (lacht). Doch die Kandidatur ist nicht auf meinen Mist gewachsen. Es hat sich in den letzten Monaten herauskristallisiert, dass die Kirchbürger beim Präsidium eine Auswahl haben wollen.
Betreiben Sie nun einen Wahlkampf?
Nein, das will ich nicht. Ich habe meine Kandidatur angekündigt und nun sollen die Kirchbürgerinnen und Kirchbürger entscheiden. Für mich wäre es kein Drama, wenn ich nicht gewählt werde. Dann weiss ich es. Und wenn ich gewählt werde, dann weiss ich es auch.
Sollten Sie wieder Präsidentin werden, kämen einige Aufgaben auf Sie zu.
Ja, das denke ich auch. Für mich zählen dabei zwei Grundsätze. Einerseits ein Zitat von Bertolt Brecht: «Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.» So habe ich eingesehen, dass es falsch war, als Präsidentin zurückzutreten. Andererseits hat Francis Picabia gesagt «Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.» Im Laufe der Zeit verändert sich vieles und man sieht einen Entscheid aus einer anderen Perspektive. Von aussen ist die Perspektive völlig anders, als wenn man in einer Behörde sitzt.
Dann würden Sie im Nachhinein einiges anders machen?
Ja. Das Thema «Sanierung des Kirchgemeindehauses» habe ich mit meiner damaligen Behörde noch angerissen. Wir hatten gesagt, dass es für den Betrieb weiterhin so viele Räume braucht. Dem ist aber nicht mehr so und man muss mit der Zeit gehen. Das hatten wir nicht berücksichtigt. Die Sanierung würde mich natürlich weiterhin beschäftigen.
Bei den Nationalratswahlen haben Sie auf der Ü60-Liste der SP kandidiert. War das für Sie ein Zeitvertreib?
Mir war völlig klar, dass ich nicht gewählt werde. Mit meinem Resultat bin ich sehr zufrieden und konnte damit die Hauptliste unterstützen. Die Kandidatur war für mich ein Spiel. Ich bin ab und zu eine Spielerin und mag das. Auf einer Ü60-Liste hat man zudem viel mehr Freiraum und kann machen, was man will. Man muss zum Beispiel nicht auf Social Media aktiv sein.
Haben Sie kein Profil auf Facebook?
Nein, nicht mehr, ich habe es gelöscht.
Warum?
Ich habe gemerkt, dass ich das alles nicht mehr will. Es kursiert so viel Oberflächliches auf Social Media. Ich muss nicht ständig wissen, was meine Freunde machen und immer Fotos anschauen. Es ist unglaublich, wie viele Bilder geteilt werden; Sonnenaufgänge, Weihnachtsmärkte... Von mir selber wollte ich das nie preisgeben. Aber es war gut, dies auszuprobieren. Ich hatte sogar einen Kurs für Facebook besucht. Doch für mich passte das nicht.
Wie informieren Sie sich?
Ich lese gerne Zeitung, Zeitschriften und Bücher. Sie sind mein geistiges Futter. Ich habe die Zeit ohne ein Amt sehr genutzt für meine geistige Spielwiese.
Wie zum Beispiel?
Über längere Zeit habe ich Kurse für Philosophielektüre an der Volkshochschule Zürich besucht. Ich habe mich oft mit dem Existenzialismus befasst. Nachzudenken ist etwas, das ich in meiner Freizeit sehr schätze, und werde mir weiterhin viel Zeit dafür nehmen. Dazu gehören meine wöchentlichen Wanderungen im Appenzellerland. Ich bin gerne alleine unterwegs. Diese Auszeiten sind meditativ und ich kehre immer voller neuer Ideen heim.
Wohin genau führen Sie diese Wanderungen jeweils?
Immer in ein Restaurant (lacht). Ich esse überall eine Rösti. Zum Beispiel im Berggasthaus Mesmer oder auf der Meglisalp. Aber in der «Forelle» am Seealpsee kommt eine Forelle auf den Teller.
Wandern Sie auch im Winter?
Nein, dann bin ich gerne zu Hause oder besuche eine Ausstellung.
Welches Buch lesen sie derzeit gerade?
«Quichotte» von Salman Rushdie sowie «Joseph und seine Brüder» von Thomas Mann. Zudem habe ich mir die Jakobs-Bücher der Nobelpreisträgerin für Literatur, Olga Tokarczuk, gekauft. Ich finde es spannend, dass Erinnerungsbücher heute Thema sind.
Interessieren Sie sich auch für andere Formen von Kultur?
Ja. Am Morgen höre ich Radio SRF2 und hole mir dort Tipps für Ausstellungen und Events. Diese Besuche machen reich. Ich sage deswegen gerne, ich sei die reichste Frau der Welt. Und ich bin privilegiert: Mir geht es gesundheitlich gut, lebe in einer wunderbaren Partnerschaft und habe keine finanziellen Nöte. Was will man mehr?
Um das Thema Partnerschaft anzusprechen: Sie sind für viele ein Vorbild, weil sie sich schon vor Jahren öffentlich als lesbisch bekannt haben.
Ich bin oft auf das Thema Homosexualität angesprochen und dazu interviewt worden. Doch in den letzten Jahren hat sich das gelegt. Ich muss diesbezüglich der Behörde der Kirchgemeinde ein grosses Kompliment machen, weil das bei meiner Wahl 2008 nie ein Thema war. Zum Glück bin ich deswegen auch nie angegriffen worden.
Sind Sie eine gläubige Person?
Das frage ich mich auch. Ich habe mich lange damit auseinandergesetzt, und letztendlich denke ich schon. Ich glaube aber nicht an einen personifizierten Gott, habe also kein anthropomorphes Gottesbild. Für mich ist es das Unerklärbare oder die vierte Dimension.
Warum wohnen Sie in Kreuzlingen?
Ich bin hier aufgewachsen und durfte das Elternhaus übernehmen. Zuvor habe ich lange in Uttwil und dazwischen in Zürich gelebt.
Mögen Sie den See?
Ja. Ich bin sehr gerne am See, aber nicht drin.
Sie schwimmen nicht gerne?
Nein, je länger je weniger. Eine Steingeiss muss schliesslich nicht schwimmen, sondern in den Bergen herum kraxeln. (lacht)
Wohin hat Sie Ihre letzte Reise geführt?
Nach Neapel. Eine total lebendige Stadt mit vielen Gesichtern. Allgemein bin ich gerne in Europa unterwegs, vor allem in Italien und Frankreich. Oft mit dem Kulturklub von SRF2.
Welche ist Ihre Lieblingsstadt?
Paris. Als ich 2016 das Präsidium der Kirchgemeinde abgegeben hatte, verbrachte ich als Auszeit zwei Monate in Paris. Dabei habe ich die einzelnen Arrondissements entdeckt, von aussen nach innen. Aber alle habe ich nicht geschafft.
Zur Person: Die 70-jährige Kreuzlingerin Susanne Dschulnigg war Sekundarlehrerin und arbeitete später an der Berufsschule. Sie sass acht Jahre für die SP im Kantonsrat und engagiert sich als bekennende Lesbe für die Anliegen von Homosexuellen. Acht Jahre gehörte sie der reformierten Kirchenvorsteherschaft in Kreuzlingen an, davon vier als Präsidentin. Anfang Dezember wurde sie ins «Who is Who» der Thurgauer Zeitung gewählt. (ndo)