Amriswil
Couture-Geschäft platzt aus allen Nähten

Das Couture Atelier «la vie en rose» von Claudia Stäheli ist voll mit Lernenden. Mit «Pure» ist ein neuer Ausbildungsbetrieb für die angehenden Bekleidungsgestalterinnen und -gestalter im Kanton Thurgau entstanden.

Krisztina Scherrer
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Im Couture Atelier «la vie en rose».

Im Couture Atelier «la vie en rose».

Foto: Belinda Schmid

Eine Lernende trennt die Naht beim Reissverschluss auf. Das Zupfen am Faden ist hörbar. Es klingt, als würde sie ganz fein an der Saite einer Gitarre ziehen, sodass kein Ton dabei herauskommt, nur ein dumpfes Geräusch. Naht um Naht öffnet sich.

Kein Berufsschulunterricht mehr im Thurgau

Wir befinden uns im Couture Atelier «la vie en rose», keine fünf Minuten vom Bahnhof Amriswil entfernt. Claudia Stäheli hat sich vor 22 Jahren als Bekleidungsgestalterin selbstständig gemacht. Im Atelier arbeiten an diesem Donnerstagnachmittag sechs Leute: Nähen, bügeln oder skizzieren. Normalerweise sind es zwölf Personen, die sich den Laden teilen. Seit Februar hantieren dort nämlich zehn Lernende. Seraphiene Benz ist seit dem Abschluss ihrer Ausbildung bei Stäheli angestellt. Seit einem Jahr hat die 36-Jährige ihr eigenes Unternehmen «Couture Atelier vonmirzudir» mit Spezialisierung auf Brautmode gegründet und arbeitet Teilzeit bei «la vie en rose». Die beiden haben die angehenden Bekleidungsgestalterinnen und -gestalter bei sich aufgenommen, weil der Kanton seine Lehrwerkstätte geschlossen hatte (siehe Kasten).

Berufsausbildung nur noch in privaten Ateliers

«Infolge des Entscheides vom 30. Juni 2020 durch den Kanton für die Zuteilung der Berufe in die einzelnen Berufszentren im Kanton Thurgau wird die Lehrwerkstätte Couture Création per 31. Juli 2022 geschlossen. Zukünftig wird es nur noch möglich sein die Berufsausbildung zum/r Bekleidungsgestalter/in EFZ im Kanton Thurgau in einem privaten Atelier zu absolvieren.»

So steht es auf der Website des Bildungszentrums Bau und Mode Kreuzlingen. Der Berufsschulunterricht findet schon seit 2021 ausserkantonal statt.

Stäheli und Benz bauen neuen Ausbildungsbetrieb auf

Zehn Lernende auf einen Schlag. Das war eigentlich nicht der Plan der Unternehmerinnen. «Wir hatten in den letzten Jahren nur drei, vier Lernende in einer Klasse. Das ist nicht normal und nicht der Sinn der Sache», sagt Claudia Stäheli. Die 51-Jährige ist Präsidentin des Schweizerischen Modegewerbeverbands, leitet Weiterbildungen und hat angehende Bekleidungsgestalterinnen und -gestalter unterrichtet. Die Lernwerkstätte «Atelier Couture Création» des Kantons Thurgau habe nicht mehr rentiert und auch das Interesse den Beruf in einer Lehrwerkstätte zu erlernen sei zurückgegangen. Zur Schule gehen die Lernenden in St.Gallen. Bei der praktischen Ausbildung kommen Claudia Stäheli und Seraphiene Benz ins Spiel.

Claudia Stäheli (l.) und Seraphiene Benz bilden gemeinsam angehende Bekleidungsgestalter und Bekleidungsgestalterinnen aus.

Claudia Stäheli (l.) und Seraphiene Benz bilden gemeinsam angehende Bekleidungsgestalter und Bekleidungsgestalterinnen aus.

Bild: Belinda Schmid

Dass die beiden Frauen die Lernenden übernehmen, war von Anfang an geplant. Nur nicht so früh und nicht so viele. «Wir wollten klein starten, mit zwei Lernenden und dann jedes Jahr zwei neue dazunehmen – sodass wir pro Lehrjahr zwei Auszubildende beschäftigen, maximal sechs», sagt Claudia Stäheli. Aber: «Wir sind Macherinnen, unser Motto lautet: Nicht nur Tee trinken und abwarten, machen», sagt Seraphiene Benz.

Die Beiden haben gemeinsam den Ausbildungsbetrieb «Couture Atelier Pure» gestartet. «Wichtig ist: ‹la vie en rose› und ‹Pure› sind zwei eigenständige Unternehmen» erklärt Stäheli. Inhaber von «Pure» ist der Trägerverein «Ausbildungsbetrieb Couture Atelier Pure» und dieser finanziert das Atelier auch. Mit dem Ausbildungsbetrieb haben die Lernenden die Chance, den Alltag eines privaten Ateliers kennenzulernen. Die Aufträge kommen von privaten Kunden. Seraphiene Benz und Claudia Stäheli sind für die Lernenden da und arbeiteten jeweils Teilzeit bei Pure. Als Verbundpartner sind die beiden Frauen mit ihren eigenen Unternehmen je ein Drittel für die Ausbildung zuständig.

Ateliers ziehen um

Spitze, Seide, Tüll: Das Atelier von Stäheli ist eingedeckt mit verschiedensten Stoffen in den verschiedensten Farben. Schaufensterpuppen präsentieren Cocktailkleider und Abendroben. Pullunder, Pullover und Blusen sind sauber aufgehängt an Kleiderbügeln. Die Arbeitstische stehen verteilt im Raum, an jedem ist eine Person beschäftigt. An den Wänden hängen Fotos oder Regale sind angebracht, darauf stapeln sich Boxen und Stoffrollen. Ein kreatives Chaos. Wenn gerade niemand an der Nähmaschine oder Dampfbügelstation werkelt, ist es mucksmäuschenstill.

Eine Schlange umschlingt das rechte Hosenbein, Kartenmuster auf Stoff: Marco Tavella schliesst diesen Sommer die Lehre ab, er darf einen Kundenauftrag von Anfang bis zum Ende selber ausführen. Für die Kundin kreiert der 22-Jährige eine fliessende Hose mit auffälligem Muster. Bisher hat er die Skizzen, sobald die Käuferin eine ausgewählt hat, macht er das Schnittmuster, stellt einen Prototypen der Hose her – sitzt das Kleidungsstück, näht es Tavella im gewünschten Stoff zusammen. «Jetzt hat er die Möglichkeit, alles, was sonst von uns begleitet wird, eigenständig zu machen», sagt Stäheli. Ziel ist es, den Lernenden aufzuzeigen, wie ein Atelier in der Wirtschaft funktioniert. «Es braucht Leidenschaft. Man muss immer dranbleiben und Weiterbildungen machen.»

Marco Tavella ist im letzten Lehrjahr.

Marco Tavella ist im letzten Lehrjahr.

Bild: Belinda Schmid

Die beiden Ateliers «la vie en rose» und «Pure» ziehen im Mai an die Bahnhofstrasse 1 am Amriswiler Marktplatz. «Hier, am jetzigen Standort, ist alles so eng und viel zu klein. Im neuen Laden haben wir zwei Eingänge, zwei Schaufensterbeschriftungen und zwei Innenräume. Wir treffen uns in der Mitte über ein gemeinsames Probierzimmer», sagt Stäheli. Damit Marco Tavella und seine Mitlernenden die Lehre bestmöglich abschliessen können, fehlen noch diverse Dinge, wie Nähmaschinen oder Faden. Ein Crowdfunding soll dem Ausbildungsbetrieb «Pure» eine Starthilfe geben.